Was wäre Wittenberg ohne seine Kirchentüre? Wir schreiben das Jahr 2018 – das Lutherjahr 2017 ist vorbei.
Was bleibt, ist eine Stadt, die zusätzlich zum Thema Reformation viel Geschichte und viele Geschichten zu bieten hat. Denn in der alten Universitätsstadt lebten viele verschiedene Persönlichkeiten aus Bildung und Kultur. Um Luther kommt man in Wittenberg nicht herum. An die Tür der Schlosskirche schlug er seine 95 Thesen an, welche die damalige Welt veränderten und die heute noch nachwirken.
„Ein feste Burg ist unser Gott.“ Diese Textzeile des bekannten Kirchenliedes von Martin Luther prangt in grossen Lettern auf dem Kirchturm der Schlosskirche.
Die Schlosskirche wurde 1506 auf den Grundsteinen des ursprünglichen Schlosses des Kurfürsten von Sachsen errichtet. Heute können im Kircheninneren das Grab Luthers und die letzte Ruhestätte des Reformators Philipp Melanchthon besichtigt werden.
Türen und Tore gibt es in Wittenberg viele!
Wittenberg ist überschaubar. Eigentlich ein Dreieck.
Man beginnt bei der Schlosskirche, geht eine Strasse rauf und eine runter. Legt noch einen Bogen ein und ist bereits wieder bei Luthers Schlosskirche.
Dabei treffe ich auf alte Bekannte aus der Mittelschulzeit.
Manche kannte ich noch nicht – und ich glaube, diese beiden beispielsweise haben sich in Wittenbach nicht wohl gefühlt.
Sogar Giordano Bruno lehrte an der Universität Wittenberg. Dieser Mann war seiner Zeit voraus. Er stellte sich gegen das geozentrische Weltbild und glaubte an die Unendlichkeit des Weltalls. “Mit den Flügeln des Geistes” sprengte er bisherige Grenzen der Naturwissenschaften. Dafür wurde er von der Kirche der Ketzerei beschuldigt und auf dem Scheiterhaufen verbrannt.
Die Universität erzählt viele Geschichten von bedeutenden Menschen.
Ich schaue nach oben durch die Äste des alten Baumes bei der Universität. Was er wohl schon alles gesehen hat?
Ich schaue immer wieder zu Boden…
… und sehe andere Geschichten.
Viele Gebäude sind liebevoll restauriert. Andere rufen nach Rettung. Und es klaffen auch Lücken in den Häuserreihen. Nach der Wende waren viele Besitzverhältnisse unklar. Ehemalige Besitzer konnten nicht gefunden werden, Erbgemeinschaften streiten und kommen zu keiner Einigung.
Wenn Häuser ihre Geschichte erzählen könnten.
Noch überblicken die Reichsadler Wittenberg.
Es ist klirrend kalt hier anfangs Februar. All die bedeutenden Menschen in der Stadt der vorigen Jahrhunderte müssen gefroren haben.
Fast 40 Jahre, von 1508, mit einer kurzen Unterbrechung, bis 1546, hat Luther in Wittenberg im Augustiner Eremitenkloster gelebt. In der dortigen Turmstube konnte er zum ersten Mal in seinem Leben in einem eigenen, sogar beheizbaren Raum allein und unbeaufsichtigt arbeiten.
Nun aber weiter zur Stadtkirche.
Tröstlich, dass nicht nur an mir, sondern auch an Engeln der Zahn der Zeit nagt.
Drinnen sind die Engel besser erhalten.Das Innere der Stadtkirche gefällt mir.
Aber an der Aussenfront entdecke ich eine Plastik, mit der die Juden bereits 1290 geschmäht wurden. Unter der „Judensau“ sind am Mahnmal Blumen abgelegt worden.
1944 wurde ein Aussenlager des KZ Sachsenhausen in Wittenberg errichtet. Frauen aus dem Lager mussten in einer Flugzeugfabrik bis zum Umfallen arbeiten. Die Autorin Renate Gruber-Lieblich schrieb das Buch: „… und morgen war Krieg“. Dadurch lernte sie die jüdische Ärztin Miriam Litwin kennen, die 1944/45 im KZ-Aussenlager der Flugzeugfabrik Arado Wittenberg Häftling war, und beschrieb diese Freundschaft im nächsten Buch „Nachtzug nach Piestany“.
Man kann sich das Haus von Philipp Melanchthon anschauen. Er war als Reformator neben Martin Luther eine treibende Kraft der deutschen und europäischen kirchenpolitischen Reformation und wurde auch „Praeceptor Germaniae“, Lehrer Deutschlands genannt. Er war spindeldürr und etwas verwahrlost, deshalb suchte Luther ihm eine Frau. Schliesslich willigte er in die Ehe ein und die Partnerschaft schien zu klappen. Auf die Frage, wie es seiner Frau gehe, soll er gesagt haben: “Sie stört weiter nicht.” Soweit zum Frauenbild dieser Zeit.
Das Lutherhaus ist riesig, heute das grösste reformationsgeschichtliche Museum. Luther hatte es sich 1532 schenken lassen und bewohnte es seiner Frau Katharina von Bora.
Katharina von Bora, Luthers Frau, steht denn auch im Park, symbolisiert als Vermittlerin, Verbindende von zwei Welten.
Und das Restaurant ist nach ihr benannt.
Zum Traualter wurde Katharina von Bora vom Ehepaar Lucas und Barbara Cranach begleitet.
In deren Hof fühle ich mich wohl. Lucas Cranach der Ältere war einer der bedeutendsten deutschen Maler, Grafiker und Buchdrucker der Renaissance.
Heute gibt es da eine Malschule.
Die Fassaden des Fachwerkhauses sind fantasievoll gestaltet. Dieser Cranach- Häuserkomplex mit dem Brunnen im Innenhof lebt.
Lukas Cranach der Ältere wie auch Martin Luther glaubten an den Teufel und waren Befürworter von Hexenprozessen, beispielsweise 1540, als in Wittenberg eine alte Frau, ihr Sohn und zwei weitere Männer gefoltert und verbrannt wurden.
Religiös war Luther bestimmt, aber auch christlich? Ich bin sehr nachdenklich bei meinem Besuch in Wittenberg.
Die sich in einem Fenster eines modernen Hauses spiegelnde Kirche ist wie ein Symbol für meine Gedanken. Ich betrachte die Zeit Luthers, als lediglich 2000 Menschen in Wittenberg lebten, aus der heutigen Perspektive. Mein Bild ist also verschwommen.
Ich freue mich an den sich in Fenster spiegelnden Gebäude. Das Haus mit den sich spiegelnden Kirchen und Häusern ist wie eine Gemäldegalerie.
Ich mag es, wenn sich Ebenen vermischen.
Das Wittenberger “Postauto” gefällt mir.
Wittenberg hat wirklich eine Bedeutung in der Weltgeschichte – aber nicht nur immer eine positive. Wittenberg empfinde ich als bedeutsam, vielschichtig, irgendwie schillernd, aber auch düster.
Man muss nachdenken – in Wittenberg.
Aber man kann auch lachen. Wer errät, was auf dem Bild zu sehen ist? Antwort am Schluss des Blogbeitrages.
… in Wittenberg.
Religion ist auch Partei.
Gotthold Ephraim Lessing, 1729 – 1781
Dank
Ich danke dem Reiseveranstalter Twerenbold für die Reise nach Hamburg (Elbphilharmonie), Leipzig (Gewandhaus) und Dresden (Semperoper) – und den Abstecher nach Wittenberg. Dank auch dem Car-Chauffeur und zuverlässigen, geduldigen Reisebegleiter Dirk Lüscher.
Musik
Die Musik zur Zeit Luthers ist nicht so mein Ding. Ich knüpfe an bei den in Wittenbach präsenten Geschichten aus dem 2. Weltkrieg und wähle frühe Aufnahmen von Klezmermusik.
Und das Lied “Von guten Mächten wunderbar geborgen” von Dietrich Bonhoeffer kommt mir in den Sinn. Es vermittelt Zuversicht und lässt sich vielfältig interpretieren.
Zur Musik bekam ich nach der Veröffentlichung des Blogbeitrages eine Mail von Dörte Reisener (bei den Kommentaren zu lesen). … weil Sie gerade an der Musik der Lutherzeit nichts Nennenswertes finden, schicke ich Ihnen hier einen Link zur CD der lautten compagney BERLIN.
Hier der Flyer 2016 Mitten_im_Leben_LC (geringe Dateigröße)
Antwort
Das Foto zeigt die Katzenklappe am Portal des Stadthauses. Nachts wurde sie geöffnet und die Katzen durften im Rathaus Mäuse jagen. Einzelne sollen nicht mehr rausgekommen sein, weil sie so viele Mäuse gefressen hatten und sich nicht mehr durch die Klappe zwängen konnten. Si non è vero, è ben trovato. 🙂
Eva
Liebe Regula
Bereits in der Sek musste ich das Bild der Wittenberger Kirche mit Luthers Thesen in mein Geschichtsheft kleben.
Deinen vielschichtigen Bericht habe ich mit grossem Interesse gelesen. Es ist dir gelungen, kritisch informativ und zudem mit einer Prise Humor über diesen berühmten Ort zu schreiben. Ein grosses Dankeschön!
Ritanna
Jedes Bild aus Deiner Kamera, jedes Deiner Worte und das Hineinspüren in jene Zeit, in die Gedanken der “mächtigen” “wortgewaltigen” Menschen und sich zugleich der armen oder besser den “nichts zu sagenden Menschen” sich hinein denkt – und wieder anlangt im “Heute”.
Liebe Regula, Du regst ungemein die innere Vorstellungskraft an und förderst die Auseinandersetzung in mir in Jahrhundert-Menschen-Geschichte. So bleibe ich stehen und lasse mich mit dem “heute” berühren und herausfordern.
Dieser Rundgang mit Dir in Wittenburg ist so stark wie ein eindrücklicher nachhaltiger Film der einem aufscheucht – nicht schlapp zu machen. Danke.
Nicky Ardin
Liebe Regula,
Sehr interessant. Vielen Dank für diesen informativen Artikel. 🙂
Hab ein schönes Wochenende.
Liebe Grüsse
Nicky
Vreni und Fritz
Liebe Regula,
eindrücklich dein Beitrag über Wittenberg. Wir erleben unseren Besuch in Wittenberg ein zweites Mal und stellen fest, dass wir nicht alle Details gesehen haben die du in deinem Bericht zeigst. Vielen Dank.
Regula Zellweger
Aus einem Mail:
Liebe Frau Zellweger,
ich bin eine langjährige Freundin von Frank Beyer, Ihrem Stadtführer in Wittenberg. Er hat mir den link zu Ihrem blog, in dem Sie so wunderbar über Ihre Reise nach Wittenberg berichten, geschickt und mir gefallen besonders die Brüche, die Sie in Ihren Bildern deutlich machen.
Für so eine Stadt und vor allem ihre Menschen braucht man natürlich länger als eine Stadtführung. Mir geht es auch immer so, wenn ich in der Schweiz, meist bei Freunden, zu Besuch bin. Aber hält man persönliche Freundschaften, erschließt sich oft auch eine Landschaft oder eine Stadt leichter.
Lange Rede kurzer Sinn, weil Sie gerade an der Musik der Lutherzeit nichts Nennenswertes finden, schicke ich Ihnen hier einen link zur CD der lautten compagney BERLIN, dem Ensemble, dessen Managerin ich bin.
Sie heißt “Mitten im Leben 1517”, aber wir haben versucht zum Klingen zu bringen, dass es sich 1517 und 2017 gar nicht so unähnlich anhört. Es würde mich sehr freuen, wenn ich Ihnen auch musikalisch das Leben in der Lutherzeit ein bisschen näherrücken konnte. Die lautten compagney BERLIN ist häufig in der Schweiz zu Gast.
Video-Clip: https://www.dropbox.com/s/gi857mcmn1m4ktw/Mitten_im_Leben_Trailer.mp4?dl=0
CD: https://www.dropbox.com/sh/a77w714ie0gp0lx/AABe2pqWFK3ex20hbSc_vtRha?dl=0
Herzliche grüßt
Dörte Reisener
LAUTTEN COMPAGNEY Berlin
Beatrice
Liebe Regula
So schön, dass ich diese Twerenboldreise mit dir und hier auf deinem Blog erleben durfte. Soviel Spannendes, was mir gar nicht so bewusst war, konnte ich nun wieder nacherleben.
Ganz herzlichen Dank.
Béatrice