C’est la vie

…alt werden kann ich später. Ja, aber wie lange noch? Und wie?

Diese Fragen beschäftigten mich vor ein paar Jahren intensiv. Und jetzt wieder, wegen dem wunderbaren Buch von Rebekka Haefeli mit Kunstfotos von Gaëtan Bally.

Rita Staubli, 2014

Ausgelöst wurden die Fragen rund ums Leben und ums Sterben 2014.
Rita Staubli, die auch heute noch nach 20 Jahren mit fast 80 regelmässig bei Sterbenden Nachtwache hält, hatte damals ein kleines Buch mit einer Sammlung von Erlebnissen geschrieben: ENDZEIT – DA SEIN BIS ZULETZT – Heitere Begleitung.

Ich redigierte das Manuskript und schrieb das Vorwort:

„Ich mache Lebensbegleitung“, erklärt Rita Staubli resolut, „denn das Sterben ist auch Leben.“ Sie sieht sich als Menschen, der andere in Übergangszeiten im Leben begleitet. Im Zentrum stehen für sie das Gegenüber und seine Bezugspersonen. Sich selbst stellt sie im Dienst der Sache in den Hintergrund, hat aber im Lauf des Lebens auch gelernt, dass sich abgrenzen den Respekt von anderen unabdingbar beinhaltet.

Seit zehn Jahren ist Rita Staubli für das Hospiz Aargau im Einsatz. Unentgeltlich, unermüdlich und mit viel Freude. Diese Freude spürt man aus den in diesem Bändchen zusammengefassten Geschichten und Gedichten. Nicht in chronologischer Reihenfolge sind die einzelnen Kapitel angeordnet, sondern so, wie sie für Rita Staubli sinnvoll scheinen. Die Aargauerin schreibt, wie sie redet – so, wie ihr der Schnabel gewachsen ist. Lustvoll integriert sie Dialektausdrücke in ihre Texte, weil sie überzeugt ist, damit genauer zu vermitteln, was sie meint.

Vermitteln, was sie tut, Geschichten davon erzählen, das will Rita Staubli. Es liegt ihr absolut fern, zu dozieren und wissenschaftlich zu argumentieren.

Statt beispielsweise lange auszuführen, dass das Sterben immer ein individueller Prozess ist, dessen Ablauf nicht geplant und nicht vorhergesagt werden kann, erzählt sie die Geschichte „Heitere Begleitung“. Und bringt sehr viel mehr zum Ausdruck, als eine wissenschaftliche Abhandlung es könnte.

Gern zieht sie die Parallele von Geburt und Tod. „Bei natürlichen Geburten entscheiden das Kind und allenfalls eine andere Macht, wann der Geburtsvorgang beginnt.“ Geburt und Tod sieht Rita Staubli als Übergänge – sich selbst als Übergangsbegleiterin, ähnlich einer Hebamme oder Doula – einfach beim zweiten grossen Übergang im Leben.

Als sich Rita Staubli zu dieser Tätigkeit entschloss, musste sie eine kurze Ausbildung in Sterbebegleitung und eine in Krankenpflege absolvieren. Ihr Begleiten besteht nicht nur auf einer psychologischen Ebene, sondern auch ganz praktisch pflegerisch. Sie unterstützt die Angehörigen auch administrativ beratend. Sie ist ganz einfach da. Voll und ganz. Dabei bleibt sie sich und ihren Werten treu. So, wie es ihre Art ist – schon das ganze Leben lang.

Heute, acht Jahre später, schrieb mir Rita: Ich bin müde, vier Nächte hinter mir, doch ich bin von Herzen dankbar, dass ich noch immer leisten kann und darf.

Dr. Roland Kunz, 2014

2014 schrieb ich auch einen Artikel über die Palliative Care in Affoltern, die Chefarzt Roland Kunz initiiert und geführt hatte.

Und ich begann, mich bei WABE zu engagieren.

WABE: Wir begleiten schwerkranke und sterbende Menschen zu Hause oder in Institutionen. Dabei entlasten und unterstützen wir betreuende Angehörige und ergänzen Fachpersonen (Spitex zu Hause, Palliaviva, Spital Affoltern, Palliativstation, Spital und Langzeitpflege). Der Schwerpunkt in unserer Begleitung liegt im zwischenmenschlichen Bereich, im Dasein für den kranken Menschen in seiner letzten Lebensphase. Die Begleiteinsätze werden im ganzen Bezirk Affoltern geleistet und sind kostenlos. Unsere freiwilligen Begleiterinnen und Begleiter werden mit fachspezifischen Schulungen auf ihre Aufgabe vorbereitet. 

Ja, und dann, 2016 startete ich meinen Blog mit Herzblut und beendete die Freiwilligenarbeit bei WABE.

Und nun schliesst sich der Kreis. Rebekka Haefelis Buch erschien 2022. Im Zentrum von “C’est la vie” stehen zwei Palliativmediziner, Eva Bergsträsser und Roland Kunz.

Foto: Gaëtan Bally. Rebekka Haefeli. Das Foto ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren ist strengstens untersagt.

Rebekka war vor 44 Jahren meine 4.-Klass-Schülerin. Ich habe ihren Werdegang von Ferne beobachtet und wir blieben in Kontakt. Beeindruckt hat mich bereits ihr Buch über eine Hebamme.

Eva Bergsträsser und Roland Kunz sind täglich mit Fragen rund ums Sterben konfrontiert. In ihrem Buch «C’est la vie – ein Buch vom Leben – unterwegs mit zwei Pionieren der Palliative Care” hat Rebekka Haefeli nicht nur zwei eindrückliche Porträts geschrieben, es gelingt ihr zudem, den Arbeitsalltag von Palliativmedizinern wiederzugeben und die Geschichte der Palliative Care in der Schweiz zu erzählen.

Foto: Gaëtan Bally. Ronald Kunz Palliative Abteilung Waid Spital Zürich, 2021. Der Palliativmediziner geht respekt- und liebevoll auf seine Patienten zu – die Patientin freut sich, ihn zu sehen. Das Foto ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren ist strengstens untersagt.

Das Buch beinhaltet zwei Bildstrecken. Für das Betrachten dieser faszinierenden Fotos von Gaëtan Bally muss man sich Zeit nehmen. Sie illustrieren nicht nur den Text, sie sind ein Kunstwerk für sich. Sie erzählen Geschichten, vermitteln Emotionen, spiegeln die Wärme, die Konzentration, die Liebe und den Respekt der beiden Mediziner und lassen einen eintauchen – auch in die Befindlichkeit der Patienten, obwohl keiner persönlich erkennbar ist. Sie zeigen das ruhige, bedingungslose Zugewandt-Sein der Ärzte zu ihren Patienten und ihren Mitarbeitenden. Und auch die Verantwortung, das Alleinsein und das Miteinandersein rund um das Engagement für sterbende Menschen.

Normalerweise nehme ich nur eigene Fotos in meinen Blog auf, die Fotos von Gaëtan Bally sind aber so beeindruckend, dass ich von Rebekka die Erlaubnis erhielt, sie zu verwenden.

Foto Gaëtan Bally. Roland Kunz Palliative Abteilung Waid. Das Foto ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren ist strengstens untersagt.

Als Journalistin besitzt Rebekka Haefeli Erfahrungen im Radio-, TV-, Zeitungs- und Onlinebereich sowie als Podcast-Produzentin und hat bereits zwei Bücher publiziert.

Im Herbst 2019 führte Rebekka Haefeli ein Interview mit Roland Kunz für die Neue Zürcher Zeitung. Sie war beeindruckt von seinen Aussagen, beispielsweise: «Meiner Erfahrung nach ist es ein kleiner Teil, der die Reife besitzt, am Ende des Lebens ein halb volles Glas zu sehen und nicht ein halb leeres.»

Die Journalistin befasste sich mit der Idee zu einem Buch über Palliative Care, in enger Zusammenarbeit mit Roland Kunz. Auch Eva Bergsträsser, Leiterin der Palliative-Care-Abteilung am Universitäts-Kinderspital in Zürich, hatte sie bei Interviews kennengelernt.

Schnell war der Autorin Rebekka Haefeli klar, dass sie beide Palliativmediziner in ihrem Buch porträtieren und von deren Alltagsarbeit berichten wollte.

Sie sah viele Parallelen in der Berufsethik der beiden Mediziner. Beide setzen sich für die Lebensqualität am Ende des Lebens ein. Sie arbeiten mit viel Fingerspitzengefühl und Geduld auch mit den Angehörigen.

Foto: Gaëtan Bally. Eva Bergsträsser Kinderspital Zuerich, 2021. Das Foto ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren ist strengstens untersagt.

Beide holen die Patienten und ihre Angehörigen dort ab, wo sie stehen, lassen sie das Tempo vorgeben, um ihre eigenen Schritte in der Auseinandersetzung mit dem Sterben und dem Tod zu finden. Beide sind Pioniere der Palliative Care in der Schweiz und haben viel für die Entwicklung ihres Spezialgebietes erreicht.

Foto: Gaëtan Bally. Eva Bergsträsser Kinderspital Zuerich, 2021. Das Foto ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren ist strengstens untersagt.

Rebekka war der Aufbau des Buches von Anfang an klar. Nach dem Vorwort der Autorin erfolgt die sachliche, objektive Beschreibung von drei Arbeitstagen von Roland Kunz. Zwischen die Tage eingestreut erfährt man mehr über den Menschen Roland Kunz, darüber, wie er zur Palliative Care gekommen ist und was für ihn in seinem Beruf unabdingbar ist: Raum und Zeit, um Fragen, Unsicherheiten und Ängsten zu begegnen. Für Patienten, Angehörige, das Team und auch für sich selbst.

Nach diesem Teil folgt ein Gespräch mit einer Patientin.

Foto: Gaëtan Bally. Eva Bergsträsser Kinderspital Zuerich, 2021. Das Foto ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren ist strengstens untersagt.

Die zweite Hälfte des Buches beschreibt in gleicher Weise Eva Bergsträsser. Zwischen diesen, auf die beiden Ärzte ausgerichteten Teilen, rollt Rebekka Haefeli die Geschichte der Palliative Care in der Schweiz auf.

Foto Gaëtan Bally. Roland Kunz Palliative Abteilung Waid. Das Foto ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren ist strengstens untersagt.

Im letzten, kurzen Kapitel zieht sie ein Fazit. Das Wissen um die Endlichkeit soll weder lähmen noch ängstigen. Es gilt, im Leben immer wieder Ziele anzupeilen, mit dem Wissen, dass man das eine oder andere nicht erreichen wird. «Die Herausforderung besteht darin, eine Balance zwischen diesen Polen zu finden. Das ist eines der Credos der Palliative Care: die Endlichkeit stets miteinzubeziehen, aber trotzdem aufs Leben fokussiert zu sein.»

Foto: Gaëtan Bally. Eva Bergsträsser Kinderspital Zuerich, 2021. Das Foto ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren ist strengstens untersagt.

Rebekka Haefeli versteht es mit journalistischer Professionalität, ein wichtiges Thema auf immer wieder anderen Ebenen so zu umkreisen und zu vertiefen, dass es die Leserschaft mitnimmt. Mitnimmt zu den Patienten im Spital, zu den beiden Pionieren der modernen Palliative Care – und vor allem auch zu sich selbst, dem eigenen Lebenskonzept, der eigenen Einstellung zum Leben, zum Sterben und zum Tod.

Foto: Gaëtan Bally. Ronald Kunz Palliative Abteilung Waid Spital Zürich, 2021. Die ähnlichen Handbewegungen zeigen, dass gegenseitiges Verständnis besteht. Das Foto ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren ist strengstens untersagt.

Roland Kunz schätzt die Arbeit der Journalistin Rebekka Haefeli sehr: «Es ist oft so schwierig zu erklären, was Palliative Care wirklich ist. Das Buch macht es für die Leser verständlich, indem es Geschichten von Menschen in ihrer letzten Lebensphase erzählt und aufzeigt, wie Palliative Care auf sie eingeht, versucht ihr Leiden zu lindern und ihren Ängsten zu begegnen. Es beschreibt nicht die Theorie der Palliative Care wie ein Lehrbuch, sondern beobachtet die Praxis anhand persönlicher Schicksale und zeigt auf, was am Lebensende möglich ist, ohne das Sterben zu beschönigen. Und es zeichnet die Entwicklung der Palliative Care in der Schweiz auf, was bisher noch niemand gemacht hat.»

Foto: Gaëtan Bally. Ronald Kunz Palliative Abteilung Waid Spital Zürich, 2021. Das Foto ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren ist strengstens untersagt.

Roland Kunz bringt es auf den Punkt: «Primär hoffe ich, dass das Buch Leserinnen und Leser animiert, sich mit der eigenen Endlichkeit auseinanderzusetzen, sich mit eigenen Wünschen und Grenzsetzungen zu befassen. Und andererseits wünsche ich mir, dass es aufzeigt, dass die Medizin sich nicht nur auf die Heilung von Krankheiten beschränken darf, sondern sich mit genau so viel Einsatz für die Begleitung am Lebensende einsetzen muss. Wenn nichts mehr gegen eine Krankheit bewirkt werden kann, gibt es noch sehr viel zu tun zugunsten der Betroffenen.»

Foto: Gaëtan Bally. Eva Bergsträsser Kinderspital Zuerich, 2021. Das Foto ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren ist strengstens untersagt.

Viel zu tun gibt es für Ärzte, Pflegende und Spezialisten im Gesundheitswesen. Viel zu tun gibt es für verantwortungsbewusste Vertreter von Krankenversicherungen und Politikerinnen. Viel zu tun gibt es für Schreibende, um aufzuzeigen, wie viele Menschen dazu beitragen können, dass viele Menschen das Leben so gut wie möglich zu Ende leben können. Viel zu tun gibt es für Menschen, die ihre Angehörigen liebe- und respektvoll bis zum Ende des Lebens begleiten. Viel zu tun gibt es für Freiwillige, die – wie Rita Staubli und Mitglieder von WABE und ähnlichen Organisationen – ihre Zeit einsetzen, um für Sterbende von Herzen da zu sein.

Hast Du die Endlichkeit gesehen?
Dann fang endlich an zu leben!

Michél Kothe M. A.

 

C’est la vie – Unterwegs mit zwei Pionieren der Palliative Care, Rebekka Haefeli, Fotos Gaëtan Bally, Hier und Jetzt Verlag, 2022, 212 S., ISBN 978-3-03919-978-5

WABE Wachen und Begleiten Knonauer Amt

Artikel 2014
Artikel Palliative Care 2014
Gelebtes Leben_Rita Staubli

Musik
Musik war insbesondere in Übergangszeiten ein wichtiger Begleiter. Die Musik für meine Sterbezeit weiss ich seit vielen Jahren. Sinnigerweise ist es ein Wiegenlied:
Richard Strauss, Wiegenlied, gesungen von Jessye Norman
Dankbarkeit für das Leben: Joan Baez – Gracias a la vida
Reinhard Mey: “Lass nun ruhig los das Ruder

Das kleine Buch «Endzeit – da sein bis zuletzt. Heitere Begleitung» von Rita Staubli kann für 10 Franken (plus Fr. 5.– Porto) direkt bei der Autorin bezogen werden:
Rita Anna Staubli-Eichholzer, Schmidtenbaumgarten 8b, 8917 Oberlunkhofen, rita-staubli@bluewin.ch.
Die Einnahmen gehen vollumfänglich an den Verein Hospiz Aargau. «Ich cha’s nöd mitnä», sagt die Autorin bestimmt. Sie muss es wissen.
Spendenkonto Hospiz Aargau: CH83 0900 0000 5007 1730 8

Zurück

Tartelettes à l’ Orange

Nächster Beitrag

Gärten in Weimar

  1. Élisabeth

    So ein einfühlsamer Beitrag! Danke Regula! Werde mir das Buch besorgen! Beste Grüße

  2. Ursula Jarvis

    Was diese beiden Menschen machen und leben kann man nicht lernen, das kann man nur machen, wenn man Menschen liebt und respektiert, egal in welchem Zustand sie sind.

Schreibe einen Kommentar

© Regula Zellweger | Alt werden kann ich später | Datenschutzerklärung| Impressum

Contact Us

Neue Beiträge abonnieren

Hier registrieren, um automatisch benachrichtigt zu werden.