Die Türmerin von Lausanne

Türmer – Turmwächter, Guets – rufen während der Nacht die Stunden vom Turm der Kathedrale Notre Dame, in Lausanne ununterbrochen seit 1405.
Hier lebt diese Tradition der «Guets» weiter.

Zum ersten Mal in deren langen Geschichte amtet eine Frau als «Guette». Cassandre Berdoz setzte damit bewusst ein Zeichen.

Ich freute mich auf ein Gespräch mit Cassandre Berdoz und erreichte gegen Abend Lausanne.

Die untergehende Sonne bescherte eine Stimmung, die mich an die Feuersbrünste denken liess, bei denen Feuerwächter im Mittelalter, als die Häuser meist aus Holz gebaut waren, mit ihren Warnsignalen vielen Menschen das Leben retteten.

Ich keuchte also hinter dem Bahnhof bergan, bereits bangend an die 160 Stufen in der Kathedrale denkend. Ich bewegte mich gegen den Strom der Menschen, die hinunter, dem Bahnhof und dem Feierabend entgegen eilten.

In Lausanne geht es rauf oder runter – Elisabeth nennt ihre Heimatstadt mit einem Augenzwinkern 3D-Stadt.

Unmöglich, hier eine normale Bank zu platzieren. Selbst Brunnen müssen auf der einen Seite mit Treppenstufen auf einem flachen Niveau gehalten werden.

Der Platz bei St. François war schon fast leergefegt.

Drinnen wärme ich mich etwas auf.

Noch halten sich einige Blätter an den Bäumen.

Doch schon drängen sich Weihnachtsbäume und -männer in den Schaufenstern.

Wenige Leute sitzen noch warm eingepackt bei einem Apéro draussen.

Der Feierabendverkehr strömt aus der Stadt.

Ich kämpfe mich mit meinem Rollkoffer hinauf und freue mich, dass ich immer mehr vom See und den Bergen in der Abendstimmung sehen kann.

Es ist definitiv Spätherbst – oder bereits Winter.

Zum Lädele bleibt keine Zeit.

Schliesslich erreiche ich mein Hotel bei der Brücke, auf deren anderen Seite sich die Kathedrale erhebt.

Vom Hotelzimmer aus bewundere ich das dramatische Wolkenschauspiel am Himmel.

Viel zu früh bin ich bei der Kathedrale und versuche, noch reinzukommen. Ein junger Mann, der ganz allein hinter der Kathedrale Fussball spielt, erklärt mir, dass jetzt ein Organist übe – man kann es nicht nicht hören. Gewaltige Klänge dringen aus der Kathedrale.

Ich warte wie abgemacht vor der kleinen roten Türe, die zum Turm führt – und friere erbärmlich.

Cassandre Berdoz erscheint pünktlich – und ich mag die sympathische junge Frau sofort. Sie lässt mir Zeit für den Aufstieg und schliesslich erreichen wir das Turmzimmer, wo ich bereits vor zehn Jahren den Turmwächter Renato Häusler interviewt hatte.

Drei bis fünf Mal monatlich befindet sich der Arbeitsort von Cassandre Berdoz im Turm der Kathedrale von Lausanne. Genauer in einer kleinen Kammer, 30 Meter oder rund 160 Treppenstufen über dem Erdboden. Der Raum ist ausgestattet mit einem Bett und einem Tisch. Zum Glück auch mit einer Heizung. Aber ohne Wasser oder Toilette.

Die 27-jährige Lausannerin empfindet es als grosse Ehre, von 10 Uhr abends bis 2 Uhr morgens die Stunden ausrufen zu dürfen, denn schon seit ihrer Kindheit war dies ihr Traum.

Das Ansehen von Türmern war nicht immer hoch. Im Mittelalter galt der Beruf als «ehrlos». In den städtischen Ständegesellschaften des Mittelalters wurden Kinder aus Türmerfamilien daher meist von der Aufnahme in andere Zünfte ausgeschlossen und durften keine anderen Berufe erlernen.

Wozu braucht es heute eine Turmwächterin? Türmer sind keine Glöckner, welche die Glocken ziehen oder schlagen. Ob der Begriff «Türmer» vom Verb «ausreissen, fliehen» kommt oder davon, dass Türmer auf dem Turm die Stunden ausrufen? Turmwächter waren früher vernetzt mit anderen, meist mit Hellebarden bewaffneten Wachleuten am Fuss der Kathedrale und in der Stadt.

Sie waren traditionell Feuerwächter, die beim kleinsten Feuerflackern oder den ersten Rauchschwaden Alarm schlugen. Damals waren viele Gebäude der Stadt aus Holz. Sie entflammten bei einer Feuersbrunst rasant und das Feuer griff schnell um sich. Die Bewohner mussten insbesondere in der Nacht schnell gewarnt werden, um rechtzeitig vor dem Feuer fliehen, türmen, zu können. Türmer warnten auch vor heranrückenden Feinden.

Macht es Sinn, heute, zur Zeit von Zentralheizungen, Brandmeldern und professioneller Feuerwehr, auf dem Turm zu wachen und die Zeit vom Turm zu rufen. Cassandre Berdoz lächelt. «Nötig ist es nicht. Aber wir Lausanner lieben diese Tradition. Es geht nicht um eine Funktion, sondern um Emotionen.»
Die Kathedrale Notre-Dame ist die reformierte Hauptkirche der Stadt Lausanne und des Kantons Waadt. Sie gilt als bedeutendes Bauwerk der Gotik in der Schweiz. Das Baumaterial ist Molasse, ein weicher Sandstein. Wegen seiner geringen Widerstandskraft werden praktisch permanent Restaurierungsarbeiten durchgeführt.

Ein Besuch der Kathedrale lohnt sich. Bedeutend ist die Fensterrose aus dem frühen 13. Jahrhundert im Querhaus. Sie wurde vom sogenannten Meister der Rose von Lausanne geschaffen und gibt ein Bild des damaligen Verständnisses der Welt: Erde und Meer, Luft und Feuer, Jahreszeiten, Monate und Sternzeichen, sowie Ungeheuer, die am Rande der Welt lauern. Bemerkenswert ist auch die Orgel.

Im Turm der Kathedrale hängen sieben Glocken, darunter fünf historische Glocken. Im Rahmen von Corona bekam die Glocke Clémence aus dem Jahr 1518 Bedeutung. Titulartürmer Renato Häusler läutete ein Jahr nach dem ersten registrierten Tod durch COVID-19 am 5. März 2021 in der Kathedrale Notre Dame in Lausanne, um den Opfern zu gedenken.

Bereits bei ihrer Maturafeier in der Kathedrale übernahm Cassandre Berdoz mit ihrer geschulten Stimme ein Gesangssolo. Sie liebte seit jeher die Orte um die Kathedrale, wo man über die Stadt und den Lac Leman schauen kann.
Ausschlaggebend für ihren drängenden Wunsch, Guette zu werden, war der Frauenstreik 2019. Damals riefen vier Frauen die Stunden vom Turm – ein symbolischer Akt. Die junge Lausannerin nahm mit Renato Häusler Kontakt auf. Er hatte selbst 1987 als Hilfs-Guet begonnen und ist seit 2002 als Guet titulaire, leitender Guet tätig. Er hat fünf Mitarbeiter und eine Mitarbeiterin. Häusler unterstützte das Anliegen, dass auch eine Frau dieses traditionelle Männeramt ausüben dürfe.

Steter Tropfen höhlt den Mann: Etwa alle drei Monate rief Cassandre Berdoz das zuständige Amt an und erkundigte sich, ob ein Posten als Guette frei würde.

Schliesslich wurde eine Stelle ausgeschrieben – explizit eine Frau wurde gesucht. Sie bewarb sich neben rund hundert anderen Bewerberinnen und bekam als 27-Jährige die Stelle. Sie erfüllt die traditionelle Aufgabe des Ausrufens der Stunden offiziell seit August 2021, macht Führungen und gibt Journalisten aus aller Welt Interviews. Denn eine weibliche Türmerin ist noch immer eine Mediensensation.

Zum Glück wohnt Cassandre Berdoz in der nahen Umgebung der Kathedrale und legt den Hin- und Rückweg zu Fuss zurück. Sie mag die stillen, einsamen Nachtstunden, weit über den Dächern von Lausanne. «Ich fühle mich wie aus der Zeit gefallen», versucht sie zu erklären.

Sie legt ihre Hand liebevoll auf einen dicken Balken. «Er ist aus dem 13. Jahrhundert – verstehen Sie, was ich meine?»

Gern macht sie Führungen, insbesondere mit Kindern. Auf halber Höhe befindet sich ein Raum mit besonders guter Akustik. «Hier klingt jeder aufregend gut – auch wer gar nicht singen kann», lacht sie. Auch die Stunden mitrufen dürfen Besucher manchmal. Es ist ein starkes Gefühl, die Stimme laut über die Stadt zu erheben. Und wieder ist sie bei einem ihrer Lieblingsthemen: Frauenrechte, Emanzipation.

Ihre Mutter, eine Kunsthistorikerin, hat ihr das Selbstbewusstsein als Frau mitgegeben.
Ich schätze dieses Gespräch bei Kerzenschein und unter dem gestrengen Blick von Beethoven. Wie der wohl hierher kam?

«Mit meiner Arbeit als Guette will ich Frauen auf meine Art dazu ermutigen, selbstbewusst in Männerdomänen vorzudringen. Nicht gegen die Männer, mit den Männern.»

Heute sind Nachtwächter, zu denen die Türmer gezählt werden, in 63 europäischen Städten in neun Ländern aktiv, Cassandre Berdoz ist mit grosser Wahrscheinlichkeit die erste festangestellte Guette.

Cassandre Berdoz studierte Kommunikation in Neuenburg und schloss mit einem Bachelor in Letters and Humanities ab. Sie arbeitet heute in einer Kommunikationsagentur. Eines ihrer Projekte ist «Die Nacht der Museen».

Wie alle Lausanner Guets macht sich die Guette kurz vor zehn bereit, zieht den schwarzen Schlapphut über und zündet eine Kerze in einer Laterne an. Die Schläge der 6.6 Tonnen schweren Glocke sind ohrenbetäubend. Kaum sind die Glockenschläge verklungen, formt sie ihre Hände zu einem Trichter und ruft: «C’est la guette, elle a sonné dix!» Gemessenen Schrittes geht sie weiter, bis ihre Rufe in alle vier Himmelsrichtungen erklungen sind. Voller Stolz und Dankbarkeit, als erste Frau Türmerin von Lausanne zu sein.

Auch wenn vielleicht nicht alle Figuren im Torbogen beim Eingang der Kathedrale begeistert darüber zu sein scheinen.

Dass die Kathedrale von Lausanne männerdominiert ist, macht bereits der Eingang klar. Umso bewundernswerter, dass jetzt eine Frau ihren Platz hier erobert hat.

Wir verabschieden uns und ich mache mich auf, diesmal geht es steil abwärts.

Ich flaniere durch die Altstadt und nehme mir vor, bald wieder zu kommen – mit mehr Zeit im Rucksack. Elisabeth wird mir die Stadt, in der sie aufgewachsen ist und studiert hat, bestimmt gern zeigen.

Im Café du Grutli lasse ich mich kulinarisch verwöhnen.

Am anderen Morgen stehe ich früh auf und lege den gleichen Weg, den ich am Abend ging, nochmals zurück. Die Stimmung ist ganz anders. Der Zauber ist weg.

Unter der Brücke suche ich vergebens einen Fluss, sehe nur Häuser und Strassen.

Rauch steigt aus Kaminen in den kühlen Morgen.

Die Stadt erwacht.

 

Ich geniesse den Blick über die Stadt.

Ich mag es, wenn früh morgens Putzwagen die Stadt säubern, bevor die Leute zur Arbeit strömen.

Und wenn die Kehrrichtwagen einsammeln, was vom vorherigen Tag nicht mehr gebraucht wird.

Hier, gleich bei der Kathedrale, haben Elisabeth und Cassandre Berdoz die Mittelschule besucht.

Ich kehre für das Frühstück ins Hotel zurück.

Ich geniesse es mit Blick auf die Kathedrale.

Auf der Rückreise lasse ich meinen kurzen Besuch in Lausanne Revue passieren. Es ist wunderbar, sich von einer Freundin “ihre” Stadt zeigen zu lassen. Lausanne, ich komme wieder, mit Elisabeth.

Zum Sehen geboren, zum Schauen bestellt,
dem Turme geschworen,
gefällt mir die Welt.

Johann Wolfgang von Goethe, 1749 – 1832

Informationen
Vaud Promotion
Region du Lac Leman

Kurzer Film

Dank
Ich danke Ursula Krebs von Gretz Communications AG und Caroline Eggenschwiler von Vaud Promotion für die Organisation dieses Besuchs.

Musik
Es gibt eine Turmbläsermesse von Fridolin Limbacher.
Orgel der Cathédrale Lausanne.
Bekannt ist das Lied des Turmwächters auf dem Munot in Schaffhausen.

Zurück

Trüffeln im Thurgau

Nächster Beitrag

Ein Igelhaus

  1. Rolf

    Erneut eine lebendige Stadtführung
    Ganz anders als meine geschäftliche
    Zeit die ich vor vielen Jahren dort verbrachte

  2. Dori

    Ich freue mich sehr, diesen interessanten Beitrag zu lesen. Die Stadt Lausanne kenne ich überhaupt nicht.
    Einen guten Tag und herzliche Grüsse.

  3. Élisabeth

    Noch ein spannender Beitrag mit eindrucksvollen Bildern! In ein paar Seiten hast du die Stimmung der Stadt “zusammengefasst”

  4. Rita

    Vielen Dank für die tolle Turmführung. Spannende Gescichichte und spannend erzählt.

  5. Kathrina Redmann

    Lusanne hat mir immer gefallen. Und hat nun durch deinen Blog noch eine zauberhafte Note bekommen. Danke für die Eindrücke, auch mit dem Kalt-Warm-Kontrast, der uns nun hier überall beschäftigt.
    Leite den Blog weiter an Freunde, die gerade ein paar Tage in Lausanne verbringen.

  6. Edda Neitz

    Es ist schon sehr lange her, dass ich in Lausanne war und meine Erinnerung bezieht sich eigentlich nur auf den Weißwein, den ich dort getrunken habe. Er war von der Region und – gefühlt – damals wie heute, einer der besten Weißweine, die ich kosten durfte. Also ein ganz anderes Thema. Doch dein wunderbarer Blog motiviert dazu, demnächst wieder einmal nach Lausanne zu reisen. Viele Grüße aus dem fernen Aachen :-)).

    • Regula Zellweger

      Das Programm Eurer Schweizerreise wird immer länger! Ich freue mich auf Euch. Allerdings hätte ich auch gern Felix kennen gelernt!

      • Lis

        Regula, vielen Dank für deine stimmungsvollen Bilder und die spannende Erzählung über die Türmerin.
        Du hast mir Lausanne, eine Stadt, die ich nicht kenne, sehr eindrücklich näher gebracht.

  7. Ritanna

    Liebe Regula, einfach grandios! die Idee, die Bilder, die Geschichte, so lebendig echt.
    Ich wünschte mir, dieser Bock könnte zu unserem Jubiläum 2023 “100 Jahre Kirchenglocken ” eingebaut werden. Das wäre faszinierend.

    also einfach fantastisch! Danke

  8. Rita

    Eindrückliche und stimmungsvolle Bilder!

  9. Anita Stutz

    So ein schöner Beitrag.
    Danke dafür.
    Liebe Grüsse
    Anita

  10. Marina Wallier

    Lausanne war mir bis heute total fremd. Das war jetzt für mich ein Stadtrundgang, den ich nicht vergessen werde, einfach wunderbar, die Bilder, die Informationen, Super, vielen Dank und herzliche Grüsse, Marina

  11. Esther Haller-Ofner

    Liebe Cousine
    Mit deinen stimmungsvollen Bildern lerne ich Lausanne in einer anderen Jahreszeit kennen. Meine Erinnerung an die Stadt reichen 45 Jahre zurück, als ich im Sommer mit meiner Vespa nach Lausanne fuhr, um mein Französch in den Ferien aufzustocken. In Erinnerung geblieben sind mir vor allem die steilen Strassen und die Hitze in der Stadt. Leider nicht das Französische.

    Liebe Grüsse Esther

Schreibe einen Kommentar

© Regula Zellweger | Alt werden kann ich später | Datenschutzerklärung| Impressum

Contact Us

Neue Beiträge abonnieren

Hier registrieren, um automatisch benachrichtigt zu werden.