Leventina – entschleunigen statt Stau

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Heute fährt man blitzschnell durch den Gotthardtunnel und über die Autobahn runter in den Süden – wenn man nicht im Stau festsitzt.

Dabei verpasst man einiges.

Meine Reise ins Bleniotal nutzte ich für eine schöne Erfahrung: die Er-fahrung der Leventina.

Sie umfasst das Flusstal des Tessins von dessen Quelle im Bedrettotal bis nach Biasca, wo man ins Bleniotal abzweigen und über den Lukmanierpass Disentis im Vorderrheintal erreichen kann – dies war meine geplante Route.

Eigentlich wollte ich über den Gottard fahren – aber es schneite und es wäre eher gefährlich gewesen. Aber sobald der Gotthard aus dem Winterschlaf kommt, werde ich meine Reise über den Gotthard nachholen.

Am Ortseingang zu Airolo katapultieren mich die Bilder auf der Mauer eines Hauses zurück in die Schulzeit. Damals hing in vielen Schulhäusern das Bild von der Gotthardkutsche, gemalt von Rudolf Koller. Die Geschichte vom Schmied von Göschenen und dem Bau des Weges über den Gotthard war “Zwangslektüre.”

Ich erinnere mich an die letzte Passfahrt über den Gotthard. Damals hörte ich plötzlich Hufschlag und bis ich meinen Fotoapparat gezückt hatte, war der Spuk schon beinahe vorbei.

Die Postkutscher vom Gotthard erinnern mich daran, dass viele Menschen im Urserental und in der Leventina 1880 ihre Arbeit plötzlich verloren, weil ihre Funktion nicht mehr gefragt war.
Und ich frage mich, was kommt 2021 auf uns zu. Damals war es der Bau des Gotthardtunnels, auf einem geografisch kleinen Raum, heute ist es die weltweite Pandemie.

Säumer und Kutscher verloren durch den Tunnel ihre Arbeit und die Bergbauern mussten mit der Konkurrenz aus den umliegenden Ländern mithalten – was selten gelang. 1888 lebten deshalb mehr Hospentaler in den USA als im Urserental.

Beim Bahnhof in Airolo warten die Postautos auf ihren Einsatz. Ich bewundere Postautochauffeure und -chauffeusen, die auf den oft engen Passtrassen ihre Passagiere sicher ans Ziel bringen. Auch wenn es weniger abenteuerlich sein muss, als fünf Pferde sicher über die Haarnadelkurven zu führen – dies bei jedem Wetter auf dem Kutschbock.

Beim Bahnhof steht von wenigen beachtet das Denkmal, das den Bauarbeitern gewidmet ist, die den Tunnel unter schwierigsten Bedingungen 1872 bis 1880 gebaut haben.

Göschenen und Airolo wuchsen zu Arbeiterstädten heran, in denen tausende, vor allem italienische Bauarbeiter und Mineure, auf engstem Raum zusammenlebten. Airolo hatte damals 3700 Einwohner und war die zweitgrösste Gemeinde im Tessin. Heute leben hier rund 1500 Menschen.
Enge, Armut, Krankheiten und Kriminalität waren damals die Folge des engen Zusammenlebens. 1875 kam es in Göschenen zum Streik, vier Streikende wurden erschossen. 1879 starb der leitende Ingenieur Louis Favre durch Herzversagen im Tunnel. 194 weitere Menschenleben forderten Steinschläge, Felsstürze und andere Arbeitsunfälle. Die Dunkelziffer dürfte deutlich höher sein. Viele verloren auch ihr Leben durch Krankheit, denn die Wohn- und Arbeitsverhältnisse für die Arbeiter waren miserabel.

Ich steige das Dorf hinan zur Kirche. Der Weg ist steil. Das Tessin ist ein Bergkanton, ich befinde mich in den Alpen.

Die Chiesa Santi Nazario e Celso steht an der früher viel befahrenen Kantonsstrasse vom Gotthard nach Chiasso. Man kann sich vorstellen, dass hier früher ein Säumerpfad durchführte, den man immer mehr verbreiterte und ihn ganz nah an die Kirche rücken liess.

Santi Nazario e Celso wurde im 12. Jahrhundert erbaut. Die heutige Kirche wurde 1879 neu gebaut, nachdem sie von einem Brand zerstört worden war, bei dem ein grosser Teil des Dorfes niederbrannte. Der Kirchturm stammt noch aus romanischer Zeit.

Airolo hat fünf Kirchen. Und jede Kirche hat erfahrungsgemäss mehrere Madonnen mit Kind. Ich freue mich immer, wenn ich in einer Kirche Josef mit dem Kind auf den Armen sehe, solche Darstellungen sind eher selten.

Wer Eishockey mag, kennt den HC Ambri-Piotta – weiss aber vielleicht nicht, dass beide Dörfer zur Gemeinde Quinto gehören.

Quinto liegt oberhalb der Talsohle am linken Berghang,  Ambri und Piotta rechts. Bereits im Mittelalter gab es hier die Zunft der Säumer, eine wichtige Einnahmequelle für das Dorf über Jahrhunderte. Die Eidgenossen eroberten 1331 Quinto, plünderten und brannten nach eidgenössischer Manier. Lange litt das Dorf unter den Vögten aus dem Urnerland.

Heute nimmt die Zahl der Bewohner kontinuierlich ab, waren es 1970 noch 1490, heute sind es rund 1000.

Die Pfarrkirche St. Peter und Paul ist 1227 dokumentiert. Archäologische Untersuchungen in den Jahren 1972-73 bestätigen, dass ihre Gründung aus dem frühen Mittelalter stammt.

Die Kirche wirkt trutzig.

Mir gefällt der mittelalterliche Türsteher hoch oben in der Mauer.

Im Innern weist mich eine Krippe darauf hin, dass Weihnachten naht.

Die Farbkombination von Blau, Gold und Grau besticht und die Blumendekoration ist stilvoll.

Liebliche Deckenmalereien!

Und auch hier entdecke ich Josef als präsenter, liebevoller Vater. Die Josefs scheinen in der Leventina emanzipiert zu sein? Maria kann zwar die Finger nicht ganz vom Kind lassen.

Neben dem Fokus auf Josef mit dem Kind in den Armen habe ich auf die “ways up to heaven” geachtet. Links Quinto, rechts Faido.

Auch der Friedhof von Quinto ist speziell.

Quinto ist das Tor zu einer attraktiven Bergregion, beispielsweise gelangt man von hier zum Ritomsee.

Und zur Welt, schliesslich gibt es hier einen Flughafen.

Auf der Fahrt nach dem Bezirkshauptort der Leventina Faido entdecke ich Maroni. Ich sammle keine, kaufe später welche im Coop. Maronibäume gehören jemandem.

Stellenweise ist das Tal eng. Dann scheinen die Autobahn, die Bahnlinie und die Kantonsstrasse die ganze Talsohle auszufüllen. Man geht nicht hin, man fährt durch.

Typisch sind auch die Zeugen der Nutzung der Wasserkraft in der Leventina.

Dass die Bevölkerung eher abwandert, beweisen zerfallene Häuser.

Und man hofft, dass solche Gebäude mit viel Respekt renoviert werden, denn es sind Häuser mit der Geschichte von Generationen.

Unterdessen habe ich kapiert, dass es bei den Kirchen immer Parklätze gibt. Meine Sicht aus der Frontscheibe mitten in Faido.

Von der Pfarrkirche Sant’Andrea folge ich den Wegweisern zur Cascata Piumogna.

Schon von weitem hört man die Piumogna rauschen.

Ein faszinierender Ort. Am liebsten würde man schwimmen gehen. Wenn es Sommer wäre.

Über eine Brücke gelangt man zu einem Steg, der über das Wasserbecken beim Wasserfall führt.

 

Hier spürt man die Gischt auf der Haut.

Auf der anderen Seite des Tals liegt das Dorf.

Das diese Gewässer auch wild sein können, beweist das Schwemmholz.

Das Wasser bekennt Farbe.

Die leuchtenden Herbstfarben der Laubbäume bilden einen bezaubernden Kontrast.

Auf der Strasse nach Giornico fahre ich nicht neben der Autobahn, sondern weit unter ihr. Über mir rollen Blechlawinen gegen Süden.

Kurz vor Giornico erreiche ich wieder geschichtsträchtigen Boden. In Zusammenhang mit den Ennetbirgischen Feldzügen fand hier 1478 eine Schlacht statt. Eigentlich war versprochen, dass die über den Gotthard expandierenden Urner die Leventina bekommen würden.  Die Mailänder hielten nicht Wort und die Urner rückten in die Leventina vor, wo sie als Befreier begrüsst wurden. Die Eidgenossenschaft schickte zwar den Urnern ein 8000 Mann Heer zur Unterstützung – aber diese zogen sich wieder zurück, weil sich Berner, Zürcher und Innerschweizer nicht einig waren – das war schon damals so. Soweit zum Schweizer Föderalismus, wir sind ein einig Volk von Brüdern.

Es blieben 600 Mann in Giornico zurück und sie leisteten dem zwanzigfach überlegenen Mailänder Heer erfolgreich Widerstand, indem sie die klimatischen Bedingungen, den gefrorenen Tessin und die Kälte, erbarmungslos ausnützten. “Die Eidgenossen wälzten Haufen von Steinen in den nahenden Feind, und in die entstehende Verwirrung im mailändischen Heer dröhnte mit einem Male der Schlachtruf der Eidgenossen, die nun, da sie Fusseisen trugen, wie das Donnerwetter in das feindliche Heer hineinfuhren und es mit ihren Hellebarden und doppelschneidigen Schwertern also auseinanderzuhauen anfingen, als wollten sie einen Blutbach vor sich her anschwellen.” (Brauchtum Schweiz)

Am Dorfbeginn von Giornico scheint sich der Fluss Tessin zu spalten, er umfliesst aber nur eine Insel – einen Teil von Giornico. Über der Talsohle entdeckt man mehrere Kirchen auf der linken Talseite.

Ich überquere die Brücke und bestaune flussaufwärts das Geröll und die Farbe des Wassers, was mich ans Verzascatal erinnert.

Flussabwärts erahnt man die durch den Fluss bestimmten drei Teile des Dorfes Giornico.

Mein Ziel sind die beiden berühmten Kirchen.

Ich entscheide mich für die Kirche San Nicola.

Die Kirche San Nicola wurde im 12. Jahrhundert erbaut.

Sie steht inmitten eines Rebbergs und gilt als eindrücklichstes Beispiel lombardischer Romanik in der Schweiz.

Die Mauern bestehen aus behauenen Granitsteinen aus der Umgebung. Unter dem Dach sind sie rundherum mit Blendarkaden geschmückt. Viel leichter erscheint der Bau deswegen aber nicht.

Der Glockenturm ist vorne seitlich in das Kirchenschiff eingefügt.

Die beiden Portale an West- und Südseite sind mit Fabelfiguren besetzt.

Im Innern der Kirche ist es dunkel.

Sensibilisiert auf das Thema “Way up to heaven” entdecke ich zuerst die Leiter und die Treppe.

Das Auge wird auf die Bilder im Chor, der Apsis, gezogen.

Bildergeschichten setzen meist Spezialwissen voraus, um sie zu verstehen. Was bedeutet diese Handgeste? Ich habe sie bereits in anderen Gemälden entdeckt. Fest steht: Weil die einfache Bevölkerung analphabetisch war, stellte man Szenen aus der Bibel bildnerisch dar. In Form eines Zyklus, einer Bilderfolge zu einem Thema, wurden Geschichten erzählt. Die Kunst hatte also nicht nur dekorative, sondern auch belehrende Funktionen.

Irgendwie war auch die Perspektive damals unbekannt.

Die Krypta wirkt trotz der Wandgemälde sehr düster. Irgendwie verlasse ich diese dunkle Kirche gern wieder, ohne Handy hätte ich keine Einzelheiten erkennen können.

Ich mache mich auf zur Kirche San Michele.

Auf dem kurzen Weg zu San Michele entdecke ich hinter Trockenmauern Trauben, die still vor sich hin Rosinen werden.

Meine Augen tanken nach den Kirchenbesuchen in der Natur auf.

San Michele zeigt sich eher verschlossen und ich spüre, dass es nun genug der Kirchen sind.

Die Rituale beim Betreten haben sich verändert: Maske an und Hände desinfizieren.

Ich suche eine Brücke auf die Insel und weiter in das Dorf am linken Flussufer des Tessins.

Ich mag diese gewölbten Tessiner Brücken.

Immer mehr graue Wolken bedeckten den Himmel, während ich nach Biasca fuhr.

Dort wollte ich nur noch eines: Die alten Grotti besuchen und mich bei einem Boccalino Merlot etwas entspannen, ein Stück dem Kastanienweg entlangspazieren und dann nichts wie los ins Hotel nach Olivone.

Die alten Grotti kauern sich an die Steilwand hinter dem Dorf.  Sie waren jetzt im Spätherbst geschlossen. Fast alle.

Eines war noch offen, mit der typisch schaurig-schönen Dekoration und einem laufenden Fernseher.

Ich bestellte, was selbst der schlechteste Koch nicht falsch machen kann: Tessiner Zvieriplättli und Merlot.

Danach machte ich noch ein paar Schritte unter den alten Kastanienbäumen, während die ersten Regentropfen fielen.

Ich liebe alte Kastanienbäume. Sie gleichen alten Menschen, die nicht aufgegeben haben, trotz Schwierigkeiten immer wieder im Frühling neu zu spriessen und später Früchte zu tragen.

Machen wir es doch den Kastanienbäumen gleich, hoffen wir, dass im Frühling unser Leben weniger von Corona eingeengt sein wird. Und ja, ich war weder wie geplant in Kanada und Schweden, habe Griechenland nicht gesehen, war nicht auf dem Canal-du-midi.

In diesen wenigen Stunden, als ich die Autobahn links liegen liess, habe ich sehr viel Schönes erlebt. Es wird mir einmal mehr bewusst, dass ich für meine Lebensqualität selbst verantwortlich bin, auch wenn sich die äusseren Bedingungen verändern.

Also los, Autobahn verlassen und die Schönheiten unseres Landes intensiv wahrnehmen.

Sensibilität ist ein Stück Lebensqualität.

Karin Obendorfer

Informationen
Leventina, Tourismus Schweiz
Leventina
Ticino Tourismus
Strada alta (Wanderung durch die Leventina in 4 Etappen)

Dank
Jutta Ulrich von Ticino Tourismus danke ich, dass sie mich ins Bleniotal “gelockt” hat.

Musik
Dieses Lied gehört zum Gotthard: Der letzte Postillon vom Gotthard.

Die Eidgenossenschaft sieht sich als das “Volk”, das sich erfolgreich gegen Vögte und fremde Herrschaft auflehnte und für die Freiheit kämpfte. Dabei vergisst man, dass sie sich in der Leventina und anderen Untertanengebieten nicht viel anders verhielten als die Habsburger Herren.
Willhelm Tell Finale du Divertissement aus der Oper “Wilhelm Tell” von Gioachino Rossini (Nicht die bekannte Ouvertüre)

Buchtipp
Der Schmied von Göschenen. Das Buch findet man auf Amazon und in Buchantiquariaten (Ricardo: 2 Franken:-))
(Hörspielfassung)
Zusammenfassung der Geschichte

Filme
Der letzte Postillon vom Gotthard (1941)
Doku: Die Schweizer (4): Kampf um den Gotthard – Alfred Escher und Stefano Franscini Doku (2013)

 

 

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Bleniotal: Bilder als Zeitzeugen

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Apéro Cantucci

  1. Rita

    Sehr eindrückliche und schöne Bilder aus dem nahen Süden!

  2. Rita

    Liebe Regula
    Fast meint man, man war bei deiner Reise dabei gewesen. So eindrücklich und schln😀

  3. Hild

    Immer ein Genuss und eine Anregung

  4. Stephan Mohler

    einfach sehr schön….

  5. ritanna

    Du bringst den Sommer mit den Bildern mitten in den düsteren grauen ersten Novembertag. Es tut meinen Augen gut, dies zu sehen. Heute ist es wahrlich wieder wichtig, sich der harten Zeiten in den vorigen Jahrhunderts zu erinnern. Und immer wieder haben Menschen aus den Widerwärtigkeiten das Beste herausgeholt.
    Die vielen Kirchen erzählen eben auch wieviele Eroberer sie erdulden mussten.
    Die Mächtigen erbauten Kirchen um ihr “Dasein” zu präsentieren.
    Der Boccolino und das Tessinerplättli erzeugen Hunger.

  6. Haller-Ofner

    Liebe Cousine
    Es ist einfach magisch, lesend mit dir auf Reise zu gehen.
    Vielen Dank und en schöne Tag

    Esther

  7. Paul und Theres

    Liebe Regula

    So meint man doch, den Ticino bereits gut zu kennen, aber mit deinen wunderbaren Bildern und Berichten wird uns ein bisher unbekanntes Tessin vermittelt. Herzlichen Dank, auch wir werden die Reise mal auf alten Pfaden geniessen!

    Liebe Grüsse und vielleicht mal im Süden

    Paul und Theres

  8. Regula Bassetti

    Herzlichen Dank, dass du mich auf diese Reise “mitgenommen” hast. Es war ein neu- und wieder-entdecken in Wort und Bild.
    Herzlich
    Regula 1

  9. Christina

    Vielen Dank für den Reisebericht – ich bin schon viel im Tessin unterwegs gewesen, aber deine wunderbare Route werde ich kommenden Frühling gerne erwandern.

  10. Nicole

    Liebe Regula,

    Ich hoffe es geht dir gut und du fitt und munter. 😊

    Es ist schon eine ganze Weile her, seitem ich das letzte Mal auf deinem Blog war. Umso schöner bei meinem Stöbern dann einen solch schönen Beitrag lesen zu dürfen, der mir sehr aus dem Herzen spricht. Wie du selbst sehr schön sagst, sind wir für unsere Lebensqualität selbst verantwortlich und wenn wir uns für die vermeintlich kleinen Entdeckungen im Leben öffnen, können sie sich sehr wohl zu einer grossartige Entdeckung entpuppen. Entschleunigte Reisen sind die schönsten Reisen. Achtsam die Welt zu entdeken, ein Genuss und eine Wohltat. Vielen Dank fürs Teilhaben lassen. Hab einen guten Start ins Wochenende.

    Herzlich
    Nicole

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