Langeweile

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30. April 2020

Ideen für die Cocooning-Zeit

Zuhause bleiben. Auf sich selbst geworfen sein. Wenn sich die Zeit wie Gummi in die Länge zieht und das «Weilen» zu lang wird, verspürt man Langeweile.

Nichts tun bringt vielleicht lang ersehnte Ruhe. Doch mit der Zeit kann das Nichtstun in Langeweile umschlagen. Es gilt zu realisieren, wann Musse in unerwünschte Langeweile kippt – und aktiv zu werden.

Die amerikanische Biologin und Journalistin Elisabeth Tova Bailey wurde von einer schweren, unerklärlichen Infektion befallen und war lange Zeit ans Bett gefesselt. Kaum fähig, sich aufzurichten, fühlte sie sich gefangen in einer weissen Kiste. Eine Extremsituation, die schwerste Langeweile hervorrufen müsste.

Eines Tages brachte ihr aber eine Freundin einen Topf mit einem Veilchen aus dem Wald. Und mit einer Schnecke drin versteckt. Die Schwerkranke begann, die Schnecke zu beobachten und wollte nun alles über das wenig geschätzte Tier wissen. In ihrer weissen Kiste war das Erscheinen der Schnecke eine Erlösung.

Später schrieb sie ein vielgelesenes Buch mit dem Titel «Das Geräusch einer Schnecke beim Essen.» Es sind der Perspektivwechsel, das Aufzeigen des Weges aus der Langeweile und das unaufdringliche Lob der Entschleunigung, die Baileys Buch besonders machen.

Feinde der Langeweile sind Neugier, Kreativität, Interesse und die Fähigkeit, sich intensiv auf ein Thema einzulassen. Das Gegenteil des Zustandes der Langeweile ist der Flow-Zustand.

Es scheint alles leichtfüssig zu gelingen. Alles fliesst, die Zeit vergeht im Fluge. Man ist voll in einer Aktivität drin, konzentriert, motiviert. Man ist ganz bei sich und blendet alles Störende aus. Das sind nicht Begleiterscheinung einer neuen Droge, das ist Flow. Geprägt hat diesen Begriff der Glücksforscher Mihály Csíkszentmihályi. Flow bezeichnet das als beglückend erlebte Gefühl eines mentalen Zustandes, der geprägt ist durch völlige Vertiefung und restloses Aufgehen in einer Tätigkeit, die wie von selbst vor sich geht. Man könnte es vielleicht Schaffenslust oder Tätigkeitsrausch nennen.


Wer Langeweile empfindet und es geniesst, hat nicht wirklich Langeweile, sondern Musse. Wer Langeweile empfindet und sich darüber nervt, der sollte sich selbst zuliebe in Richtung Flow bewegen.

Diese Aussage kennen Mütter gut: «Mir isch langwiiilig.» Kinder delegieren damit die Aufgabe, aus der selbst produzierten Langeweile herauszukommen, an Bezugspersonen. Wenn diese immer mit einem attraktiven Programm aufwarten, verpassen es junge Menschen, selbst die Verantwortung für ihre Befindlichkeit zu übernehmen und kreativ Wege aus der Langeweile und Lustlosigkeit zu finden.

Wer also unter Langeweile leidet, was in der Cocooningzeit bestimmt vermehrt der Fall ist, weil man zuhause bleiben soll, weil soziale Kontakte fehlen und beispielsweise «Lädele» kein Thema ist, der sollte allenfalls Frieden schliessen mit der Langeweile und schauen, was daraus erwächst. Der Schweizer Schriftsteller Peter Bichsel äusserte sich einmal positiv über die Langeweile. Er habe sich in seiner Kindheit gelangweilt. Fussball war für ihn keine Option, also hat er gelesen. Viel gelesen. Das war die Basis für seinen späteren Erfolg als Autor. Wer aber nicht warten mag, bis sich die Früchte der Langeweile viele Jahre später zeigen, unternimmt etwas gegen das Gefühl der Langeweile.

Der Literat, Naturwissenschaftler und Philosoph Blaise Pascal schrieb zur Langeweile: „Nichts ist so unerträglich für den Menschen, als sich in einer vollkommenen Ruhe zu befinden, ohne Leidenschaft, ohne Geschäfte, ohne Zerstreuung, ohne Beschäftigung. Er wird dann sein Nichts fühlen, seine Preisgegebenheit, seine Unzulänglichkeit, seine Abhängigkeit, seine Ohnmacht, seine Leere. Unaufhörlich wird aus dem Grund seiner Seele der Ennui aufsteigen, die Schwärze, die Traurigkeit, der Kummer, der Verzicht, die Verzweiflung.“ Kurz: Er sieht eine mögliche Ursache für depressive Versimmungen in der Langeweile. So weit kommt es besser nicht!

Leo Tolstoi definierte Langeweile als ein Wunsch nach Wünschen.

Wer aus der Langeweile-Falle entfliehen will, muss Wünsche generieren. Denn im Vorzimmer der Ziele tanzen die Wünsche.

Vielleicht soll man versuchen, Langeweile auszuhalten, Leere zulassen, Nichtstun zu zelebrieren. Spürt man aber Unzufriedenheit, Frustration, Unruhe, Antriebslosigkeit, übermässiges Schlafbedürfnis, Energielosigkeit und schraubt man sich selbst damit immer tiefer in ein immer düster werdendes emotionales Loch, gilt es aktiv zu werden. Menschen, die das Wünschen verlernt haben, grenzen ihre Wahlmöglichkeiten unnötig ein. Also kann es helfen, verborgene oder verschüttete Wünsche ans Licht zu bringen. Und daraus Ziele zu generieren.

Birgt die Cocooning-Zeit ungeahnte Möglichkeiten, die man nutzen will – oder verdammt sie zur Langeweile? Dies ist eine Frage der individuellen Wahrnehmung und verlangt eine Entscheidung.

Ein Ich-Projekt aufzugleisen macht Spass. Ein lohnendes Ziel anzupeilen beflügelt. Man sagt, dass echte Probleme das beste Mittel gegen Langeweile seien. Aber so weit muss man es nicht kommen lassen.

Vielleicht kann man ein Projekt im Moment nicht realisieren, aber man kann planen. Beispielsweise eine Reise. Und bereits jetzt alle nötigen Informationen beschaffen, die Route festlegen, sich für die Kultur vor Ort interessieren und die 1000 wichtigsten Worte in dieser Sprache lernen.
Das gelingt auch im zurzeit für viele eingeschränkten Handlungsradius – Internet macht es möglich. Oder wollte man schon lange eine vergangene Reise dokumentieren? Jetzt hat man Zeit, Reiseberichte zu schreiben und zu illustrieren.

Stand längst auf der Todo-Liste, die gesammelten Familienrezepte für die Kinder und Enkel in eine attraktive Form zu bringen. Also ran an die Töpfe und den Fotoapparat. Parallel dazu eignet man sich an, wie man Foodstyling macht und Fotos bearbeitet. Spannende Sache – und gleichzeitig Motivation, liebevoll und abwechslungsreich zu kochen und die Nachkommen zu beschenken.

Spaziergänge in die Natur bereichert man mit Fotografieren, Vogelbeobachtungen, dem Entdecken von Pflanzennamen und deren Eigenheiten oder im Erlernen der Namen der Berge, die man während dem Spaziergang entdecken kann. Vielleicht nimmt man einen Skizzenblock mit und macht eine zeichnerische Bestandesaufnahme alter Bauten in der Gemeinde. Wer seine Ziele selbst wählt und sich motiviert darum bemüht, sie lustvoll zu erreichen, gibt seinem Leben Leichtigkeit und Sinn.

Um zur Schnecke von Elisabeth Tova Bailey zurückzukehren: Es gilt in der Cocooning-Zeit, hellhörig wahrzunehmen, Interessen zu entwickeln und daraus in eine Tätigkeit zu kommen, die herausfordernd und befriedigend ist.

10 Ideen
– Eine Liste mit unerfüllten Wünschen erstellen, sie auf die Realisierbarkeit überprüfen und deren Erfüllung frechmutig und eigenverantwortlich anpacken
– Ein Ich-Projekt planen: Ziel definieren, Vorgehen bestimmen, loslegen
– Sich selbst zum Spezialisten auf einem bestimmten Gebiet machen
– Eine Reise planen
– Eine Reisedestination virtuell erforschen
– Kochen, Foodstyling erlernen, ein Kochbuch mit Fotos für die Nachkommen erstellen
– Eine Sprache lernen, damit man sich auf der nächsten Reise mit den Menschen vor Ort verständigen kann
– Sich in der Natur Wissen aneignen
– Etwas fotografierend oder zeichnend dokumentieren, beispielsweise Blumen im Garten oder Scheunen im Dorf
– In einem Zimmer, im Keller oder im Estrich Ordnung schaffen

Ist eine Schnecke langweilig? Zu beobachten, wie eine Schnecke mit Hindernissen umgeht, kann spannend sein wie ein guter Krimi. Schnecken schleichen beispielsweise unverletzt über Rasierklingen. Wie schaffen sie das?

1 Gehäuse, 2 Leber, 3 Lunge, 4 Darm­ausgang, 5 Atem­öffnung, 6 Auge, 7 Fühler, 8 Schlund­ganglion, 9 Speichel­drüse, 10 Mund, 11 Kropf, 12 Speichel­drüse, 13 Geschlechts­öffnung, 14 Penis, 15 Vagina, 16 Schleim­drüse, 17 Eileiter, 18 Pfeil­beutel, 19 Fuß, 20 Magen, 21 Niere, 22 Mantel, 23 Herz, 24 Samen­leiter

Schnecken schleichen auf einem Fuss über eine Schleimschicht, deshalb wird der Fuss der Schnecke von scharfen Gegenständen, über die sie kriecht, nicht verletzt.

Lungenschnecken sind Zwitter, die sich wechselweise befruchten. Die Paarung  findet nach einem mehrstündigen Liebesspiel statt, bei dem sich die Schnecken zunächst mit den Fühlern betasten, und mit den Fusssohlen aneinander hoch kriechen.

Meine Schnecke ist eine Garten-Bänderschnecke und gehört zur Famile der Schnirkelschnecken und zur Ordnung der Lungenschnecken.

Sie ist von März bis Oktober aktiv und ernährt sich nicht von krautigen Pflanzen, sondern vorwiegend von Algen, weshalb sie in Gärten nicht als Schädling auftritt.

Ich fragte eine Schnecke,
warum sie so langsam wäre.

Sie antwortete,
dadurch hätte sie mehr Zeit,
die Welt zu sehen.

Wolfgang J. Reus, 1959 – 2006

Musik
Schneckenlied

Buchtipp

Das Geräusch einer Schnecke beim Essen

 

 

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  1. Rita

    Ein super toller Beitrag. Anregend und entschleunigend zugleich.
    Herzlichen Dank.

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