Ratten-Weihnachten

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14. Dezember, Adventskalender 2019

Heute erzähle ich eine reizende Ratten-Weihnachtsgeschichte von Barbara Wersha aus dem Tulipan Verlag.

Donna Diamond hat die Geschichte mit bezaubernden Illustrationen bereichert.

Kinderbücher sind seit meiner Kindheit Begleiter, die mein Menschen- und Weltbild geprägt haben. Kinderbücher sind noch heute eine meiner Leidenschaften. Bilderbücher können mich glücklich machen. Ich konnte dieser Leidenschaft 13 Jahre lang frönen, als meine Kinder klein waren und ich als Bibliothekarin arbeitete.

Kinderbücher sind oft Metaphern und haben auch Erwachsenen einiges zu sagen – wenn sie es wahrnehmen wollen. Kinderbücher sprechen auf unterschiedlichen Ebenen mit unterschiedlichen Botschaften an – oft genau mit denjenigen, für die man im Augenblick offen ist.

Ich habe mich also in Walter verliebt.

Das Buch beginnt: “Walter war eine hochbetagte Ratte. Er lebte bei der Schriftstellerin Amanda Pomeroy.
Miss Pomeroy wusste nicht, dass Walter bei ihr wohnte, denn er liess sich nur nachts blicken, Walter jedoch gefiel Miss Pomeroys Haus am besten von allen Häusern, in denen er sich je aufgehalten hatte. Das lag daran, dass sie Schriftstellerin war und Hunderte von Büchern besass. Aus Gründen, die er nicht zu erklären wusste, war Walter mit einer besonderen Fähigkeit auf die Welt gekommen – er konnte lesen.

Ihm war noch keine andere Ratte begegnet, die über diese Fähigkeit verfügte, er aber konnte seit dem Tag, an dem er seine Augen aufgeschlagen hatte, gedruckte Worte entziffern. In jungen Jahren hatte er in der Nähe der städtischen Müllhalde gelebt und dort ein vollständiges Taschenwörterbuch sowie zwei Bücher eines gewissen Sir Walter Scott gelesen.
Wie die meisten Ratten besass er keinen eigenen Namen, doch an jenem Tag beschloss er, sich selbst Walter zu taufen. Scott war offenbar ein bedeutender Mann, denn seine Bücher waren zwar zerfleddert, aber in Leder gebunden. Walter frass den grössten Teil des Leders, liess jedoch die Buchseiten unversehrt. Danach las er, was immer ihm unter die Augen kam.”

“Es gab eine Menge Dinge, die Walter an Miss Pomeroy mochte. Zum einen war sie alt, genau wie er, und hatte weisse Strähnen im Haar, die ihn an sein weisses Schnäuzchen erinnerten. Zum anderen scherte sie sich nicht um gängige Regeln. Sie schrieb ihre Bücher nicht auf einem Computer, sondern auf einer alten Schreibmaschine. Beim Schreiben trug sie immer einen verschlissenen blauen Bademantel und steckte sich einen Bleistift ins Haar. In der Küche war sie nachlässig, eine Angewohnheit, die Walter oftmals einen mitternächtlichen Imbiss bescherte.”

Da Walter von Natur aus sensibel war, spürte er Miss Pomeroys Einsamkeit.
Er nahm allen Mut zusammen und schrieb eines nachts einen Brief: “Ich heisse Walter. Ich wohne ebenfalls hier.”

In der nächsten Nacht entdeckte Walter, dass sein Brief weg war und ein Blatt mit dem Text “Ich weiss” lag da.  Walter war sehr gerührt und beschloss, zurück zu schreiben. Er erzählte in seinem Brief, dass er gern ihre Bücher lese und sie immer wieder fein säuberlich an ihren Platz zurückstelle.

Die Antwort kam prompt: “Lieber Walter, ich bin schliesslich nicht blöd.”  Miss Pomeroy hatte Walter längst bemerkt. “Ich weiss, dass Du Essen stiehlst.” Sie schloss den Brief: “Du bist hier nicht willkommen.”

Walter schrieb sehr freundlich zurück und schenkte der alten Dame das einzige, was er besass, eine Postkarte.

So entstand ein reger Briefwechsel.  Wunderschön zu lesen mit vielen Sätzen, die zum Denken anregen.

Die Adventszeit erreichte auch Miss Pomeroys Haus in Form von Postkarten.

Auf einer war zu lesen: “Sei gastlich stets zu Fremden, sie könnten verkleidete Engel sein.”

Miss Pomeroy hatte seit Jahren keine Weihnachten mehr gefeiert. Walter hätte gern.

Er malte für die alte Schriftstellerin ein Bild von sich. “Frohe Weihnachten von Walter”, schrieb er, “so sehe ich aus.”

Und siehe da, in der Heiligen Nacht fand er ein Geschenk. Für ihn! “Von Amanda”.
Er bekam ein Buch mit dem Titel “Walter – Die Geschichte einer Ratte.” Das Buch war aus schönstem Papier gemacht und in Handschrift verfasst…

Es kam, wie es kommen musste. Walter schlich zur Bank, wo die alte Frau jeweils sass und sich ihren Gedanken hingab. Scheu sprang er auf die Bank. Und rückte achtsam immer wieder ein Stückchen näher. Zum Schluss sass er ziemlich dicht bei ihr und beide schauten in die Welt hinaus. Zwei Freunde auf einer Bank, mitten im Winter!

Dieses Buch habe ich mir selber geschenkt. Auch das ist Weihnachten.

Es ist ein liebevolles Geschenk für Kinder und Erwachsene.

Am Schönsten ist es, wenn man es nicht nur verschenkt, sondern sich – wie Walter und Miss Pomeroy auf der Bank – nahe zueinandersetzt, es vorliest oder erzählt.

Und ja, Ratten sind bei uns im Advent zu Gast.

Geschichten erzählt zu bekommen ist ein menschliches Bedürfnis.
Je mehr wir von Idioten regiert werden und keine Kontrolle über unser Schicksal haben, desto wichtiger ist es, dass wir uns gegenseitig Geschichten darüber erzählen, wer wir sind, warum wir sind, wo wir her kommen und was möglich ist.

 Alan Rickman

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  1. Marianne Gertsch-Schoch

    oh, wie schön – Walter darf auch in unser Haus auf Besuch kommen; besser: bleiben! Zwischen Buchseiten. Danke für dieses wunderschöne Geschichtenbuch, liebe Regula… Und ja: Unsere Buchhändlerinnen am Kronenplatz in Burgdorf lassen dich vielmals grüssen 😉 herzlich, Marianne

  2. ritanna

    Schicksal haben, desto wichtiger ist es, dass wir uns gegenseitig Geschichten darüber erzählen, wer wir sind, warum wir sind, wo wir her kommen und was möglich ist. – Alan Rickman
    Das wieder zu leben in unseren vorgerückten Jahren, macht uns so besonders, überträgt Freude am Leben – wo es doch immer mühsamer wird und nichts für wehleidige Menschen ist.
    Walter und Miss Pomeroy leben es uns vor.

  3. Elfi

    eine zu Herzen gehende Geschichte, vielen Dank!

  4. Ursula

    Das Buch werde ich kaufen. Ich liebe tiefgründige Geschichten und Bin eine Sammlerin von Kinderbüchern.
    Danke für dieses Adventstürchen,
    Bis hoffentlich bald mal wieder!

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