First Nations in Ostkanada

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Was ich auf meiner Reise auf den Spuren der First Nations in Kanada zuerst gelernt habe: Ich darf das Wort “Indianer” nicht mehr brauchen. Richtig ist “First Nations” oder indigene Menschen. Und statt “Indianerstamm” muss man jetzt “indigene Nation” sagen.

Mehr als Wörter! Ein Teil der indigenen Bevölkerung der kanadischen Provinz Quebec hat an Selbstbewusstsein gewonnen und kämpft für ihre Rechte.

Plan erstellt von Jason Picard-Binet

Meine Reise führte dem Sankt Lorenzstrom entlang mit je einem Abstecher in den Regionalpark Montcalm, an einen Ort der Begegnung mit indigenen Menschen und ihrer Kultur sowie nach Wendake, einem Indianerreservat der Wyandot, auch Huronen genannten indigenen Nation.

Während der grossen Zeit des Pelzhandels waren die Fähigkeiten der kanadischen Urbevölkerung beim Jagen, Fischen, Kanufahren und Fallenstellen von den Weissen noch gefragt. Diese Zeiten sind aber längst vorbei. Die indigene Urbevölkerung war den Weissen betreffend Waffen unterlegen. Diese verfolgten die First Nations in Ostkanada zwar nicht so brutal wie beispielsweise in Südamerika, den USA und Australien, doch man wendete subtilere Methoden der Vernichtung von Kulturen an – bis zum Ende des letzten Jahrhunderts.

Wie hier an einer Fassade in St. Gallen zu sehen ist, ist unser Bild indigener Menschen noch immer stark von Karl May geprägt.
Die romantische Geschichte von Disneys Pocahontas entspricht nicht der Wahrheit. Sie war eine Geisel der Briten, die vergewaltigt und zum Christentum gezwunden wurde.

Auch Krankheiten, die aus Europa eingeschleppt wurden, brachten ganze Stämme zum Verschwinden. Nur ein Teil der indigenen Bevölkerung hat den Weg in die moderne Zeit gefunden und die Umstellung mitgemacht. Solche Menschen habe ich auf meiner Reise getroffen.

Viele indigene Menschen haben aber den Anschluss an die Kultur der weissen Einwanderer nicht gefunden. Diese Leute habe ich nicht gesehen, nicht im Reservat Wendake und schon gar nicht in den beiden Grossstädten Quebec und Montreal.
Man kann sich fragen, ob man der Situation der indigenen Bevölkerung in abgelegenen Reservaten gerecht wird, ohne persönlich vor Ort gewesen zu sein. Ich halte es aber für unethisch, wenn sich Touristen angesichts der Armut einer Bevölkerung – egal wo auf der Welt – gegenüber Menschen in sozial schwierigen Bedingungen – voyeuristisch verhalten. Wenn ich nichts verändern kann oder will, muss ich auch nicht hingehen und “gaffen”.

Die Regierung stellt heute für Reservate Land zur Verfügung. Sie achtet streng darauf, dass diese Landstriche von Weissen nicht aufgekauft werden. Menschen mit mindestens 25 Prozent indigenem Anteil dürfen hier beispielsweise Jagdhütten errichten, um in der Natur gemäss ihren Traditionen zu leben und zu jagen und zu fischen. Ein Teil der indigenen Bevölkerung schafft den Spagat, geht während der Woche in den Agglomerationen der Erwerbsarbeit nach und lebt am Wochenende im Familienverband in der Natur – um der neusten Generation Werte, Traditionen und Legenden ihrer Nation zu vermitteln.

Ein anderer Teil der indigenen Bevölkerung lebt in den Reservaten von Jagd und Fischfang. Viele benötigen Sozialhilfe, denn die Arbeitslosigkeit und die Alkoholkrankheit ist in den Reservaten weit verbreitet.

Indigene Menschen sind übrigens schwindelfrei, deshalb haben viele in den letzten beiden Jahrhunderten im Hochbau Arbeit gefunden.

Bereits der Frauenpower-Flug von Zürich nach Montreal mit Icelandair mit einer Zwischenlandung auf dem Flughafen Keflavik in Island war ein besonderes Erlebnis.

Ich wurde upgegradet und bin bereits beim Apéro sensibilisiert. Darf das auf der Tonic-Büchse stehen oder sollte es heissen “Indigenous Tonic Water”?

Der Flughafen liegt in einer flachen, sehr kargen Landschaft, rund 50 Kilometer von Reykjavík entfernt.

Die Piste scheint direkt ins Meer zu führen.

Nach dem Start sah ich auf verschneite Landschaften.

Dann entdeckte ich imposante Gletscherlandschaften unter mir – wir überfliegen Grönland!

Nach der Landung in Montreal wurde ich von Jason Picard-Binet von Québec Aboriginal Tourisme abgeholt und ins moderne Hotel mit beeindruckender Deko im Stadtzentrum gebracht.

Foto: Jason

Jasons Picard-Binets Vater ist weiss, seine Mutter indigen. Er gehört also zu den Métis, im Herzen ist er Ureinwohner, Aboriginal. Seine Mutter stammt aus der Nation “Huron Wendat”, einer matriarchalischen Nation. Picard ist der Familienname seiner Mutter. Jason ist stolz auf seine indigenen Wurzeln. Der gut ausgebildete, mehrsprachige und beruflich erfolgreiche Marketingfachmann ist auch stolzer Jäger und Fischer, der von seiner Nation eine Adlerfeder als Auszeichnung für sein Engagement für die Sache der First Nations bekam.

Für einen aufwändigen Federschmuck reicht es zwar noch nicht, aber diese eine Feder hält er in Ehren.

Eine erste, beeindruckende Begegnung mit der Kultur der First Nations in Kanada machte ich im McCord Museum in Montreal.

Die Führung durch Guislaine Lemay war hervorragend. In einem ersten Raum mit der permanenten Ausstellung, deren Exponate immer wieder ausgewechselt werden, lernte man unter dem Oberbegriff “Wir tragen unsere Identität” viel über indigene Kleidung.

Hier beispielsweise zwei Oberbekleidungen für Frauen. Ihre Hauptaufgaben nehmen sie mit den Händen wahr, deshalb sind die Handgelenke oft durch Dekoration betont.

Bei diesem Männeroberteil sind Schultern und Oberarme betont. Männer brauchen für die Jagd und das Fischen körperliche Kraft.

Kleidung bedeutet also nicht nur Schutz und Wärme. Alle Völker der Welt kommunizieren mit ihrer Kleidung Botschaften ihrer Gesellschaft und ihrer individuellen Identität. Kleidung kann ganze Geschichten erzählen.

Die verschiedenen Nations haben unterschiedliche Menschen- und Weltbilder. So ist eine Lebenslinie nicht grad verlaufend.

Guislaine Lemay erklärte die Bedeutung der Kleidung für die Entwicklung, Erhaltung und Kommunikation der sozialen, kulturellen, politischen und spirituellen Identitäten der First Nations, Inuit und Métis.

 

An indigener Kleidung erkennt man oft das Alter und den Status eines Einzelnen und bekommt Informationen über die Nation, der er angehört. Indigene Kleidung würdigt die bemerkenswerten Leistungen des Individuums und hebt die enge Beziehung zwischen Menschen und Natur hervor.

Diese Perlenarbeiten zeigen auf, wie die indigene Kultur von der Weissen überdeckt wurde. Perlenstickereien sind bei den indigenen Nations weit verbreitet. Dafür haben sie ihre eigenen Dessins, beispielsweise eine Darstellung des Kreises als Symbol des Lebens und der heiligen Zahl Vier: die vier Aspekte emotional, physisch, psychisch und spirituell, die Richtungen Osten, Süden, Westen, Norden, die Lebensphasen Kindheit, Jugend, Erwachsenenzeit und Alter oder auch die vier Jahreszeiten und die Menschenrassen rot, schwarz, gelb und weiss (Bild unten rechts).
Um nach Europa verkaufen zu können, übernahmen sie Muster der Weissen.

Der Kreis ist heilig, er symbolisiert das Leben als Ganzheit, ein Kreis ist ohne Anfang und ohne Ende. Der Kreis ist auch ein Schutz-Symbol. Kreise finden sich überall: die Welt ist rund, Augen, Gesicht, Lagerfeuer, Tipi, Trommeln, Bäume.

Indigene Menschen denken anders als wir Europäer. Eher systemisch, sie definieren sich oft primär als Teil ihrer Nation – und dann als Individuum. Ich glaube, dass wir in Europa den Individualismus auf Kosten der Gemeinsamkeit auf die Spitze getrieben haben.

Solche Gedanken tauchten über die ganze Reise durch das Land der ostkanadischen First Nations auf. Reisen soll zum Denken anregen, Persönlichkeitsentwicklung bedeuten und Verständnis und Toleranz schaffen.

Doch zurück ins Museum. Später fertigten die Frauen Gegenstände an, die sie Händlern verkauften, die sie nach Europa exportierten. Dabei wurden Formen und Muster übernommen, die beispielsweise im viktorianischen England gerade Mode waren.

Heute gibt es indigene Modemacherinnen, die Motive der First Nations in moderne Kleidung für eine internationale Kundschaft integrieren.

Kleider machen Identität. Identität kann man aber auch zerstören, wenn man Menschen zwingt, andere Kleider zu tragen, als es der Kultur der Eltern entspricht. Obiges Bild zeigt einen Jungen vor und nach dem Eintritt in die Schule, der im Alter von etwa sieben Jahren seinen Eltern weggenommen und in ein von der katholischen Kirche geführtes Internat kam.

Wenn die Kinder nach sechs bis sieben Jahren wieder zu ihren Eltern durften, verstanden sie deren Sprache nicht mehr, denn es war ihnen verboten, ihre Muttersprache zu sprechen, Handwerke ihrer Ahnen zu erlernen oder Traditionen ihrer eigenen Kultur zu leben. Dafür durften sie Englisch und Französisch lernen und vor allem beten.

Residential Schools nannte man in Kanada solche Schulen für kanadische Ureinwohner, für Indigene, Inuit und Métis. Sie wurden von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis 1996 (!) betrieben.
Die rund 3’000 Schulen, die meisten unter kirchlicher Führung, kamen einem offiziellen Zivilisierungsauftrag nach, dessen treibende Kraft eine Untersuchungskommission als „kulturellen Triumphalismus“ bezeichnete.

In den meisten der rund 3’000 Schulen kam es zu zahlreichen psychischen und physischen Übergriffen, für die sich 2008 der kanadische Staat bei den First Nations entschuldigt hat. Inoffiziell rang sich 2009 die katholische Kirche dafür durch, für eine offizielle Entschuldigung konnte sich der Papst bis heute nicht entschliessen. Der mehrere Generationen umfassende Versuch, indigene Kulturen auszulöschen, wirkt bis heute nach. Die Lebens- und Leidenswege der Opfer sind davon gezeichnet, auch wenn ihnen eine gewisse Wiedergutmachung zukommt und sie teilweise psychotherapeutisch unterstützt werden.

Junge indigene Menschen kennen die Geschichten, die ihre direkt betroffenen Eltern und Grosseltern erzählen. Jasons Mutter beispielsweise war in einer Residential School, sie kann auch noch heute nicht mit ihren Kindern darüber sprechen. Zu tief sind die Verletzungen.
Eine Frau erzählte mir von ihrem Vater, von seinem traumatischen Erlebnis, als ihm die langen Haare gewaltsam geschoren wurden. Der kleine, verängstigte, von den Eltern separierte Junge wusste nicht, was mit ihm geschah.

Junge Vertreter der indigenen Bevölkerung Ostkanadas sind stolz, dass sie trotz allen Versuchen, ihre Kultur auszulöschen, diese erhalten haben. Sie zeigen sie mit Stolz. Beispielsweise anlässlich der Aboriginal Presence, einer Multination Native Celebration in Montreal – ein mehrtägiger Event, der sich an verschiedenen Orten in Montreal abspielt. Ich besuchte einen Anlass mitten in Montreal.

Tanz der Männer.

Tanz der Frauen.

Diese Grossfamilie teilt die Tänze, die bei indigenen Zeremonien im Zentrum stehen, mit der Montrealer Bevölkerung.

Meine Enkelkinder waren etwas irritiert, weil nicht um ein romantisches Feuer, sondern umgeben von Hightech-Lautsprechern getanzt wird.
Jason bestätigte mir aber, dass er diese Leute persönlich kenne und die Tänze nicht nur als Touristenattraktion gezeigt werden, sondern dass ein Teil der indigenen Kultur dargestellt werde.

Dieser Mann trägt einen kunstvollen Kopfschmuck. Indigene Kunst wird in vielen Galerien in Montreal und Quebec gezeigt.

In diesen Galerien werden auch Arbeiten von Ureinwohnern in den Reservaten verkauft – zu fairen Preisen.

Zeitgenössische Künstler stellen auch wieder traditionellen Kopfschmuck her.

Gern hätte ich mehr von dem modernen, pulsierenden Montreal kennen gelernt.

Aber es galt Abschied zu nehmen von dieser Multi-kulti Metropole.

Nur 88 Kilometer von Montreal entfernt konnte ich die Natur intensiv geniessen. Ich freute mich auf eine Nacht im Zelt bei Amishk Adventure im Montcalm Regionalpark. Amishk Aboriginal Adventures ist ein First Nation Standort in einem 13 Quadratkilometer grossen Naturwald, der ein authentisches Schaufenster der nomadisierenden indigenen Nationen von Quebec ist. Hier verdienen sich Indianer aus den Nationen Innu, Atikamekw, Cree und Anishnabe ihren Lebensunterhalt in einer ihnen entsprechenden Umgebung und vermitteln im Kontakt mit Touristen ihre Identität als Mitglieder von verschiedenen indigene Nations. Innu ist nicht gleichbedeutend mit Inuit, Eskimo. Beide Nationen gehören aber zu den First Nations in Kanada.

Der Gründer von Amishk Aboriginal Adventures, ein weisser Tourismusberater, sagt: “Unser Traum war schon immer, einen freundlichen, intimen Ort zu schaffen, an dem der Austausch zwischen Individuen, zwischen Nationen möglich ist. Ein Ort, an dem menschliche Werte Vorrang vor wirtschaftlichen Interessen haben. Wir setzen auf einen nachhaltigen und verantwortungsbewussten Tourismus – im Gegensatz zum Massentourismus. Ich möchte Amishk Aboriginal Adventures so schnell wie möglich in indigene Hände geben.”
Amishk wurde bereits im ersten Betriebsjahr in der Kategorie Innovation zum besten Tourismusunternehmen 2017 in Quebec gekürt.

Wir bekamen zuerst eine Lektion zu den First Nations, dann suchten wir unsere Zelte im Wald.

Zur Auswahl stehen 3 Tipis mit Feuer im Zentrum mit Brennholz, Naturtannenmatten, Bodenmatte, Lampe und Schlafsack für vier bis sechs Personen.

Etwas luxuriöser sind die Zelte mit Betten für zwei bis sechs Personen.

Mein Zelt bot einen besonders schönen Blick auf den See – ein Ort zum Träumen.

Wenn man nachts vor dem Zelt sitzt, den Geräuschen der Nacht lauscht und seinen Gedanken freien Lauf lässt, so ist dies ein unvergessliches Erlebnis.

Ich hatte den Luxus, allein ein Zelt zu bewohnen.

Was etwas schwierig war: Die Bio-Toilette ist weit weg und man muss mitten in der Nacht durch den Wald mit Schlangen und Wölfen gehen. Nötigenfalls mit Schneeschuhen. Ostkanada ist eine schneereiche Provinz – allerdings nicht im August. 🙂

Wirklich ein Ort, um der Natur und sich selbst zu begegnen.

Hier machen besonders gern Familien mit schulpflichtigen Kindern Ferien, denn Aktivitäten wie Tierbeobachtungen, Pflanzensuche, Kanufahrten, Bogenschiessen, Wanderungen, Essen am offenen Feuer und Workshops zum Erlernen von indigenem Handwerk begeistern Kinder und Erwachsene.

Zu Beginn fasste ich eine Tasse mit Untersetzer – nach Bedarf “Aufsetzer”, damit keine Insekten im Tee badeten. Die Froschtasse blieb dann die ganze Zeit “meine” Tasse.

Nachts traf ich dann auch einen Frosch. Ob dieser hier das Gequake der Frösche in meinem Garten verstehen würde? Aussehen tut er gleich! Vielleicht ist das ja bei Fröschen einfacher als bei Menschen?

Abends sitzt man ums Feuer, brät Mais und erzählt – Menschen aus unterschiedlichen Erdteilen, friedlich, offen, herzlich.

Danach essen Besucher und Gastgeber gemeinsam im grossen Zelt.

Morgens wird man von der Sonne geweckt, die durchs Zeltdach scheint. Vogelgezwitscher – und bald auch fröhliche Kinderstimmen.

Ich lernte, ein Armband zu flechten.

Und erstellte einen Medizinbeutel.

Gezeigt wurde auch, wie ein Kanu gebaut ist.

Kanus waren sehr wichtig für die Mobilität in den unendlich weiten ostkanadischen Wäldern mit ihren vielen Seen und Flüssen.

Spuren von Bibern finden sich überall in der Landschaft.

Ich konnte kaum aufhören, den putzigen Tieren zuzuschauen. Mich beeindruckte unser indigener Führer, der auf seinen Stock gestützt regungslos wie ein Denkmal dastand, wartete, scharf beobachtete und Tiere schnell entdeckte.

Viele Pflanzen kannte ich nicht.

Bei aller Tierliebe, sie hatte ich nicht in mein Zelt eingeladen. Es gibt in dieser Region aber keine Giftschlangen. Sie würde allenfalls zubeissen. Selbst schuld, wenn man sie bedrängt.

Tiere spielen in der indigenen Kultur eine grosse Rolle und werden in Kunsthandwerk und Kunst immer wieder dargestellt.

Der doppelköpfige Adler ist auch Europäern bekannt.

Die First Nations waren existenziell auf die Tiere angewiesen. Tiere lieferten ihnen Fleisch, Felle, Knochen, Sehnen, Federn und Stosszähne.

Im Weltbild der First Nations haben alle Tiere eine Seele. Einige besassen einen mächtigen Schutzgeist, der den Menschen beistehen oder schaden konnte, je nachdem, wie sie ihn behandelten.
Tiere wurden deshalb als heilige Wesen verehrt und in kunstvollen Darstellungen, Geschichten, Liedern und Tänzen gewürdigt. First Nations sehen keinen Widerspruch darin, diese heiligen Geschöpfe zu jagen, zu töteten und zu essen, denn sie tun es mit Respekt und im lebensnotwendigen Mass.

Jason fuhr mich zum Reservat Wendake. Wenn man lange mit dem Auto über Land fährt, ist Zeit und Raum für gute Gespräche.

Wendake ist ein Reservat der Huron Wyandot und bildet eine 1,46 Quadratkilometer grosse Enklave innerhalb der Provinzhauptstadt Quebec.

Logiert habe ich im Hôtel-Musée Premières Nations, einem von den Wyandot errichtetes und betriebenes Viersternhotel. Das im Jahr 2008 eröffnete Hotel ist einem traditionellen indianischen Langhaus nachempfunden.

Wendake ist ein Vorzeige-Reservat – so mein persönlicher Eindruck.

Ausgrabungen beweisen, dass die Nation der Huron Wyandot bis zum 16. Jahrhundert nördlich des Ontariosees lebte. Später zogen sie an die Georgian Bay, wo sie im 17. Jahrhundert erstmals Europäern begegneten. Ein reger Pelzhandel entstand, wovon sowohl Weisse als auch indigene Jäger profitierten.

Später kam es zu kriegerischen Auseinandersetzungen. Die mit den Franzosen verbündeten Wyandot kämpften gegen die mit den Engländern verbündeten Irokesen.

Damals schon waren Weisse Spezialisten dafür, andere Völker für “Stellvertreterkriege” zu missbrauchen. Dadurch – und durch das Einschleppen von verheerenden Seuchen, wurde die indigene Population massiv dezimiert.

Versprengte Gruppen von Wyandot suchten an verschiedenen Orten eine neue Heimat und ab 1697 besiedelten sie die heutige Gegend von Wendake. Den Namen Wendake erhielt der Ort aber erst 1986.

Im Krieg von 1812, den Kanada jetzt als Heldenkampf für sich beansprucht, kämpften die indigenen Nations der Region mit den Kanadiern gegen die USA. Letztlich waren aber die First Nations, die um ihre Freiheit geprellt wurden, die grossen Verlierer.

Bei meiner Reise auf die Kanalinsel Guernsey entdeckte ich im Hauptort dieses Schild, das von Isaac Brock erzählt, der zusammen mit indigenen Kriegern in der Nähe von Quebec den USA eine empfindliche Niederlage zugefügte. Nun habe ich überall nach Isaac Brock gefragt, kein einziger Mensch wusste was von Isaac Brock. 🙂

Der Name Wyandot oder Wendat bedeutet „die Inselbewohner“. Sie wohnten inmitten einer fluss- und seenreichen Landschaft. Ihr Stammesgebiet nannten sie Wendake.

Der ältere Teil von Wendake ist seit dem Jahr 2000 eine “National Historic Site”. Wohn- und Geschäftshäuser erinnern von der städtebaulichen Anordnung her an traditionelle Dörfer und orientieren sich an natürlichen Elementen, während die Architektur völlig europäisch geprägt ist.

Im Zentrum steht die römisch-katholische Kirche Notre-Dame-de-Lorette, gebaut 1865. Sie ersetzte eine 1730 erbaute Kapelle, die dem Feuer zum Opfer fiel.

In dieser Kirche findet man Statuen und Bilder von Kateri Tekakwitha, 1656 – 1680. Sie war mütterlicherseits Algonkin, väterlicherseits eine Mohawk. Die von den Pocken gezeichnete Tekakwitha entschied sich gegen den Willen ihrer Verwandten für das Christentum und ein Leben der Jungfräulichkeit „um des Himmelreiches willen“. Sie floh zu Fuss 300 Kilometer nach Norden und lebte als strenge Asketin in der Region Quebec, wo sie mit 24 Jahren starb. Danach wurde sie verehrt und sie soll zahlreiche Wunder bewirkt haben. 1943 erhob Papst Pius XII. Kateri Tekakwitha zur ehrwürdigen Dienerin Gottes, Papst Johannes Paul II. sprach Kateri Tekakwitha 1980 selig. Sie ist die einzige Vertreterin der First Nations, die von der katholischen Kirche heiliggesprochen wurde. Zur Heiligsprechung reisten 2012 mehr als 2’000 indigene Menschen nach Rom. Die Biografie von Kateri Tekakwitha widerspiegelt sehr viel von der Geschichte Ostkanadas, von der Rolle der Frauen, von der Kolonialisierung und Christianisierung der First Nations – und letztlich kann Tekakwitha nicht wirklich in eine bestimmte Schublade geschoben werden, denn zu viele haben sie über die Jahrhunderte benutzt, um ihre persönlichen Weltanschauungen zu unterstreichen.

“Drei Schwestern” wird eine Ackerbaumethode bezeichnet, bei der die drei wesentlichen Feldfrüchte der ostkanadischen First Nations, Kürbis, Mais und Bohnen, zusammen angebaut werden.
Ich werde dieses Trio nächsten Frühling wieder in einen grossen Topf pflanzen – es sieht auch schön aus.

Zum Hotel gehören auch typisch indigene Gebäude, beispielsweise ein von Holzpalisaden umgebenes Langhaus. Wie die Irokesen lebten die Wendat in Langhäusern und betrieben Landwirtschaft. Die durchschnittliche Länge betrug etwa 25 Meter, Breite und Höhe lagen bei etwa 6 Meter. Durchschnittlich wohnten 5 bis 20 Familien in einem Langhaus mit mehreren Feuerstellen. Die Behausung besass in der Regel nur zwei Türen, an jedem Ende eine. In der Mitte verlief über die ganze Länge ein zwei bis drei Meter breiter Gang.

In diesem Gang erzählte mir ein Geschichtenerzähler indigene Legenden.

Beispielsweise von der Entstehung der Erde, bei der die Schildkröte im wahrsten Sinn des Wortes eine tragende Rolle spielt.

1999 kam es zu einer Erneuerung der Wyandot-Konföderation, als sich in Midland, Ontario, die Führer der Wyandot Nation of Kansas, der Wyandotte Nation of Oklahoma, der Wyandot Nation of Anderdon und der Huronne Wendat von Wendake zusammenschlossen.

Wendake wird heute von vielen Touristen besucht. Es gibt auch ein Freiluftmuseum, vor dem viele Cars parken.

Persönlich war es mir in der Natur bei den Bibern, beim Übernachten im Zelt, mit einer einfachen Küche, bei Handarbeiten und Tierbeobachtungen und im engen Dialog mit Menschen, die ihr Leben trotz Tourismus auf ihre indigenen Wurzeln ausrichteten, viel wohler als in Wendake.

Meine Reise ging weiter nach Quebec, wo ich die Kultur der Nachkommen der weissen Einwanderer besser kennenlernen durfte. Davon erzähle ich in einem nächsten Blog.

Die indigene Bevölkerung besinnt sich immer mehr auf ihre ursprüngliche Küche.

Bereits am ersten Abend durfte ich die indigene Küche im Manitoba in Montreal erleben.

Auf Barhockern an der Theke konnte man den Köchen bei ihrer Arbeit zuschauen.

Das Essen hier war wunderbar und es beruhigte mich, dass die Küchen von Profis auch nicht clean wie ein OP-Saal sind.

Auch die Drinks waren nicht zu verachten. Jason trinkt keinen Alkohol – zu viel Unglück brachte das Feuerwasser den First Nations.

Sehr authentisch war das Essen bei Chef Norma Condo bei “Miqmak Catering”, Indigenous Kitchen. Im 16. Jahrhundert besiedelten die Miqmak Nations das gesamte Gebiet südlich und östlich der Bucht des Sankt-Lorenz-Stroms. Heute gibt es 29 First Nations der Miqmak in Kanada.

Die Bezeichnung Miqmak soll darauf zurückgehen, dass im 17. Jahrhundert die Ureinwohner Kanadas die Franzosen mit “Nikmaq” begrüssten, was “meine Brüder”, “meine Verwandten” oder “meine Familie” bedeutet. Die Franzosen nannten die Ureinwohner “Notres nikmaqs”, die Briten “Micmacs” oder “Mic-Macs”.

Das grüne Gemüse, das Norma servierte, ist hierzulande bestimmt nicht allen bekannt. Ich setzte das Bild auf Facebook und fragte, was es sei. Rondi, eine kanadische Journalistenkollegin, gab mir Hintergrundinformationen zu “Fiddlehead“, ein kanadischer Freund nannte sofort den Namen und Naturwissenschafterin Frauke auf Norderney konnte die Pflanze sofort botanisch bestimmen. Facebook macht manchmal Spass! Also: Fiddlehead ist Farnkraut, geerntet, wenn die Blätter noch zusammengerollt sind.

Es gab auch für die First Nation typischen kalten Labrador-Tee: Weil ich – sonst absolut keine Teekonsumentin – ihn so gern trank, gab Norma mir einen riesigen Becher mit.

Auf meinen Reisen begegne ich vielen interessanten Menschen und viele Schicksale berühren mich: Norma ist eine herzliche, fleissige, grosszügige Frau, aufgewachsen in einem Miqmak Reservat. Sie heiratete einen Schwarzen und zog in die USA. Er wurde ermordet. Die vierfache Mutter zog wieder nach Kanada zurück und baute ein Cateringunternehmen auf. Neu kann sie eine Fluggesellschaft beliefern.

Im Internet stiess ich auf Leitlinien der Miqmak:

  1. Leben gibt es überall – sichtbar und unsichtbar, unter dem Erdboden und unter dem Meer. Unterschiedliche Lebensformen können sich in andere verwandeln. Einige Tierarten und einige Leute sind nicht das, was sie zu sein scheinen.
  2. Die Vorfahren waren grosse Jäger – stark, würdevoll und gesund. Sie waren gerecht, grosszügig und mutig. Ihr Verhalten sollte ein Vorbild für ihre Nachfahren sein.
  3. Indianer haben Kräfte, die sich von denen der Nichtindianer unterscheiden. Sie können übernatürliche Helfer haben, die ihnen Botschaften oder Geschenke zukommen lassen. Einige besitzen Indianerglück oder Keskamizit, das sie in Lage versetzt, Dinge schnell und mit grosser Zuverlässigkeit zu tun, zu finden oder auszuführen.
  4. Menschen sind gleich – oder sollten es sein. Niemand sollte sich über den anderen stellen, obwohl die Häuptlinge mit aussergewöhnlichen Fähigkeiten, mit Grossherzigkeit, Mut, Anständigkeit und mit Führungsaufgaben ausgestattet sein sollten.
  5. Masshalten ist zumeist besser als Unmässigkeit. Zu viel von jedem kann schädlich sein; jeder aber sollte sich gelegentlich aus Zwängen befreien und ungewöhnliche Dinge tun.
Die Indianer, die wir für Barbaren schelten, beobachten in ihren Gesprächen und Unterhaltungen weit mehr Anstand und Höflichkeit als wir; man hört einander stillschweigend an, bis der eine ausgeredet hat, und dann antwortet der andere gelassen, ohne Geräusch und Leidenschaft.

John Locke (1632 – 1704)

Informationen
Québec Aboriginal Tourism
Québec original
Québec City Tourism
Tourisme Montréal
McCord Museum: Im Moment ist die temporäre Ausstellung Haida zu sehen. Die Nation der Haida sind im späten 19. Jahrhundert verschwunden, haben aber Zeugen ihrer Kultur hinterlassen: Geschnitzte und bemalte Schachteln, Masken, Körbe, Lieder, Tänze und imposante Totempfähle.
Ashukan Cultural Site Galerie
Amishk adventure Da möchte ich wieder hin!
Tourisme Wendake
Hotel in Wendake
Hotel in Quebec: Auberge Saint-Antoine
Icelandair bietet günstige Flüge nach Kanada und in die USA mit einem Stopover in Island an.

Kurzfilme zu Québec

Dank
Auf dem Hinflug wurde ich in die Business-Klasse upgegradet – Luxus pur! Dafür bedanke ich mich bei Icelandair.
Ich danke Jason Picard-Binet für die Organisation und Begleitung. Guislaine Lemay danke ich für die super Führung im McCord Museum. Ich danke Tanja und Simone von global communication experts für die Vermittlung der Reise. Besonders dankbar bin ich Québec Aboriginal Tourism, dessen Vertreter Jason mir die Geschichte und die aktuelle Situation der First Nations nahegebracht hat.

Musik
Von Jason empfohlen

Die Appalachen sind ein bewaldetes Gebirgssystem im Osten Nordamerikas, das sich über eine Länge von 2400 Kilometer bis in die kanadische Provinz Quebec erstreckt. Coplands Musik klang in meinen Ohren, als ich Ostkanada bereiste. Die Handlung des Balletts erzählt von einem Frühling der Siedler der 1800er Jahre. Appalachian Spring von Aaron Copland, Leonard Bernstein, New York Philharmonic

Literatur

Die Geschichte der Entstehung der Erde (Schildkröten-Legende)

Zu Beginn einer Reise fotografiere ich meistens auf dem Flughafen ein Buch, das zu meinem Ziel passt. Für Kanada wählte ich “Das Geräusch einer Schnecke beim Essen”. Es erzählt von einer Journalistin, die von einer Krankheit zu einer langen Ruhezeit gezwungen wird. Mit einer Topfpflanze gelangt eine Schnecke ins Krankenzimmer. Sie lehrt die Journalistin Gelassenheit und Langsamkeit.

“Listen to the Snail eating” wurde zum geflügelten Wort, das Jason und ich immer mal wieder erwähnten, wenn es hektisch wurde.

 

Baedeker Kanada Osten

Dieser Reiseführer deckt geografisch weit mehr ab als meine Reise ab, aber die Hintergrundinformationen zu Land und Leute, Fauna und Flora, Politik und Geschichte sind wertvoll – und das Buch macht Lust nach mehr Kanada!

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  1. Marianne Helbling

    Liebe Regula

    Das war ist wieder ein hochspannender Blog. Ich reise förmlich mit dir mit. Ich habe auch mitgetanzt, aber ich brauche noch mehr Uebung. Im kommenden Winter könnten wir zusammen sticken. Zeigst du mir das?

    Herzlichen dank für deine Mühe.

    • Regula Zellweger

      Liebe Marianne
      Danke für das liebe Feedback.
      Sticken? Gute Idee! Ich wollte den ganzen Sommer ein wunderschönes Leinentuch mit “Summertime” besticken, weil es auch nachts so heiss war. Nun kommt der Herbst – und ich lasse mir Zeit bis zum nächsten Frühling. Wenn ich so viel reise, bleibt kaum Zeit für Kreativität. Aber alles geht einfach nicht:-)

  2. Dori

    Wunderbar! Herzlichen Dank!

  3. ritanna

    Eindrücklich, wie Du die First Nations erlebst und uns, mir vor Augen führst. Tatsächlich hat meine Enkeltochter mich vor einer Woche aufgeklärt betreffend der Benennung der Menschen. Auch “Eskimo” ist verpönt, es heisst nämlich “Fleischfresser”! Ich bin froh, dass dieser respektvolle Umgang tatsächlich in unseren Schulen angekommen ist. Und Du Regula bestätigst dies.
    Danke. Wirklich eindrücklich, wie Du mir die Welt ännet des Meeres zu erleben gibst.

  4. Marianne

    Sehr unterhaltsam und lehrreich und wie immer schön gestaltet!
    Herzlichen Dank!
    Marianne

  5. Carmen Cabert

    Cool, ich habe deinen Bericht weitergeleitet an Freunde welche jetzt gerade in Kanada sind. Vielleicht haben sie ja nicht das Selbe wahrgenommen, oder sie sagen erfreut: da waren wir auch. Schön dich wieder zu Lande zu wissen.
    Grüessli vo mir

    • Regula Zellweger

      So schön! Ostkanada ist eine tolle Reisedestination! Kam heute von einer Klostertour heim, Mitte Wochen dann Richtung Ammersee. Nachher Schweden und Indien. Wann beginnt Deine Ausstellung?

  6. Christina Derksen

    Liebe Regula
    Herzlichen Dank für den interessanten und umfangreichen Bericht. Du tust etwas für meine Bildung! Für mich war gestern allerdings die Bildung näher. Auf einer Velotour in deiner Wohngegend habe ich festgestellt, dass Bremgarten und das Kloster Muri in seiner Reichhaltigkeit nicht existierten in meiner “Schublade”. Auch sehr sehenswert.

    • Regula Zellweger

      Liebe Christina
      Danke für Deinen Kommentar. Ich bin eben zurück von einer dreitägigen Reise auf den Spuren des St. Galler Klosterplans: St. Gallen, Insel Reichenau und Messkirch.
      Muri hatte wirklich eine grosse Bedeutung. Die Kirche und das Museum sind interessant und schön!
      So sind wir also gleichzeitig “ins Kloster”:-)

  7. Rita

    Interessant und spannend!

  8. ritanna

    Vielen Dank fur den schonen Blog, der ist sehr gut geschrieben und informativ.

    Der Begriff “First Nation” bedeutet gleichberechtigt mit englisch und franzosischen Leuten, aber Aborigines (Indians) waren die ersten Leute die hier lebten. In Kanada leben heute ungefahr eine million First Nation Menschen in etwa 636 Reservaten (Reserves) welche uber 50 verschiedene Sprachen sprechen. Hier leben auch ungefahr 550,000 Metis mit gemischter Abstammung von Europaern und Aborigines. Die dritten Aborigines are Inuits, etwa 60,000 Leute die hauptsachlich in Nordkanada und die Arktis leben. Indigines Leute haben ihre eigene Regierung und sind bei Kanada mit Treaties unterstuzt und deshalb bezahlen keine Steuern, etc.
    Ein solches First Nation Reservat gibt es etwa 50 km von Consecon “Tyendinaga Mohawk Reserve” mit 9000 Mitglieder. Davon 2000 Leute leben am Reservat which is 71 km2 gross.

    Ich hoffe dass mein kleiner kanadischer “Indiginous People Blog” Sie interessiert.

    Mit freundlichen Grussen, Hans & Margret
    dies der Bericht auf Blog, von meinen Canadischen Freunden in ONTARIO

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