Mit einem Tonnenleger aufs Meer

Wenn man ein solches Schiff an einem Hafen liegen sieht, denkt man sich vielleicht nicht viel.
Es ist ein Tonnenleger – und ich durfte auf Norderney mit ihm ausfahren und miterleben, wie eine Tonne ersetzt wurde. Aber von Anfang an…

Generell: Ein Tonnenleger erledigt unter anderem Aufgaben im Bereich des Küstenschutzes.
“Mit Massnahmen des Küstenschutzes sollen zum einen niedrig liegende, vom Menschen genutzte Gebiete in Meeresnähe vor Überflutungen bei Sturmfluten geschützt werden (Hochwasserschutz), zum anderen aber auch die Küsten selbst vor Uferrückgang und Landverlust.” (Wikipedia)

Ich definiere für mich nach meinem Aufenthalt auf Norderney den Begriff weiter: Alle Schutzmassnahmen für die Küste selbst, für die Lebewesen an der Küste und die Schifffahrt in Küstennähe.

Das heisst, ich zähle dazu den Schutz der Küste gegen Hochwasser und gegen das Abspülen von Sand sowie den Schutz von Menschen und Tieren in küstennahen Gebieten.

Bei meinem Aufenthalt auf Norderney habe ich Menschen getroffen, die in diesem Rahmen arbeiten: Wissenschafter, Tonnenleger, Seenotretter und Ranger.

Über die Ranger und die Seenotretter, die mir ihre Zeit geschenkt haben, berichte ich in einem nächsten Blog. Im Zentrum dieses Beitrags steht das Tonnenlegerboot.

Auf und um die Ostfriesischen Inseln hat der Küstenschutz einen hohen Stellenwert. Einerseits werden die Küsten wegen ihrer Bedeutung für den Tourismus geschützt, denn wer macht Strandferien, wenn der Strand weggespült ist?

Karte: Maximilian Dörrbecker (Chumwa)

Anderseits brechen die vorgelagerten ostfriesischen Inseln die auf das Festland zulaufenden Wellen und vermindern so wie ein vorgelagerter Schutzwall den Druck auf die Deiche am Festland.

Auf der alten Karte kann man sehen, dass Jahrhunderte zuvor die Insellandschaft ganz anders war.

Die Insel Norderney ist jünger als der schiefe Turm von Pisa.
Alles ist im steten Wandel. Wellengang, Strömung und Wind gestalten das Wattenmeer immer wieder neu.

Generell kann man sagen, dass die ostfriesischen Inseln von Westen nach Osten wandern. Deshalb liegen die meisten Siedlungen auf der Westseite, die heute stark mit Deichen und anderen baulichen Massnahmen geschützt werden.

Im Wattenmeer verschieben sich Untiefen. Deshalb müssen die Fahrrinnen für die Fähre und die anderen Schiffe permanent abgemessen und geprüft werden.
Bojen, Tonnen, wie man hier sagt, müssen einerseits regelmässig an Land geholt und renoviert werden, denn das Salzwasser greift ihre Oberfläche an, anderseits müssen die Tonnen verschoben werden, wenn sich die Bodenbeschaffenheit und örtliche Tiefe des Wattenmeeres verändern.

Für mich Binnenländerin war bisher klar: Überquert man ein Gewässer, nimmt man den kürzesten Weg von A nach B. Die Fähre auf dem Zürichsee fährt stracks von Horgen nach Meilen – nicht so die Fähre von Norddeich nach Norderney.

Sie fährt den Zielhafen mit einer weiten Kurve an. Diesen Umweg sah ich auf der Hinfahrt absolut nicht ein – vermutete, es sei wegen der schönen Aussicht auf die Insel.
Auf der Rückfahrt wusste ich sehr viel mehr vom Wattenmeer.

Was mir sofort klar war: Der Kapitän richtet sich nicht nach dem direkten Ziel, sondern nach den bunten Bojen – wohlweislich!

Bei der Ankunft der Fähre fielen mir als erster Eindruck auf Norderney hunderte Bojen auf: Der Tonnenhof. Rot, Grün, Gelb, Weiss – kein Blau. Sieht man ja nicht auf dem Wasser. Unterschiedlichste Formen erinnern an Raketen und andere Raumfahrzeuge.

Zwei Tage später hatte ich die einmalige Gelegenheit, mit dem Tonnenleger “Norden” aufs Meer hinaus zu fahren.

Mit von der Partie war Nadine von “Meine Insel: Norderney“.

Tonnenleger sind wendige, eher kleine Schiffe, die für verschiedenen Aufgaben ausgerüstet sind, beispielsweise mit Hydraulikkränen und -winden, Fächerecholotsystemen und GPS-Ortung.

Ein Tonnenleger ist ein Spezialschiff, das hauptsächlich der Betonnung, dem Auslegen und Einholen von Schifffahrtszeichen für das Bezeichnen von Fahrrinnen und Hindernissen, dient. Es ist strikt verboten, an Tonnen Schiffe festzumachen. Auf unbefugtem Verlegen oder Einholen von Tonnen drohen nach Seerecht hohe Strafen.

Neben dem Ausbringen von Seezeichen können Tonnenleger beispielsweise auch für Personen- und Materialtransporte, Aufsichts- und Kontrollfahrten, Verkehrssicherungsaufgaben und Hindernisbergungen dienen.

Zudem bietet die Tonnenleger-Besatzung Hilfe bei Havarien und Peilarbeiten für Seevermessung und Bauwerke, für Hafen- und Baggerpeilungen und Bakensetzarbeiten. Im Gegensatz zu den schwimmenden Tonnen sind Baken in festes Seezeichen, das unbefeuert ist oder nach Bauart oder Grösse nicht die Kriterien eines Leuchtturms erfüllt.

Aufgrund der Aufzählung der Aufgaben einer Tonnenlegerbesatzung kann man sich ausrechnen, wie breit die Palette deren Kompetenzen sein muss.

Kapitän Johannes Werther erzählte uns, wie er und seine Crew fünf Mädchen retten konnten, die zu weit ins Wattenmeer hinausgewandert und von der Flut überrascht worden waren.

Wegen ihren Einsätzen im Wattenmeer ist die Norden so gebaut, dass sie problemlos trockenfallen kann. Alle beweglichen Teile des Rumpfes liegen höher als der flache Kiel.

Die “Norden” wird vom Wasserstrassen- und Schifffahrtsamt Emden bereedert. Seit 1998 wird das Schiff von der Aussenstelle Norderney im Bereich der Ostfriesischen Inseln für Schifffahrtszeichenaufgaben und den schifffahrtspolizeilichen Dienst zwischen dem Harler Seegatt und der Osterems eingesetzt.
“Wir wollen der Schifffahrt das tiefst-mögliche Fahrwasser zur Verfügung stellen, Sicherheit und Leichtigkeit optimieren”, so Kapitän Werther.

Kapitän Johannes Werther ist also auch Polizist.

Das Arbeitsdeck misst rund 70 Quadratmeter und kann zwei grosse Leuchttonnen aufnehmen. Für Ankersteine und Ketten gibt es eine zusätzliche Staufläche von zehn Quadratmetern. Mit dem achtern angeordneten Arbeitskran werden die Seezeichen und deren Verankerungen ausgesetzt und eingeholt. Achtern bedeutet hinten. Das Gegenteil zu Achtern ist der Bug, der vordere Teil des Schiffes. Backbord bedeutet links der Fahrtrichtung, Steuerbord rechts.

Für das Arbeitsboot verfügt der Kran über eine getrennt angetriebene Kopfrolle mit Seegangsfolgeeinrichtung. Das zusätzliche Bereitschaftsboot liegt quer auf dem Achterdeck und wird über einen Davit, eine Aussetzvorrichtung für Boote, bewegt. Huch, ich kann schon beinahe fliessend “Seemännisch”:-)

Kapitän Johannes Werther begrüsste uns herzlich und wir durften mit ihm ins Ruderhaus klettern. Hier arbeitete sein Kollege am Bildschirm und überall sah man Schiffskarten, Mess- und Steuergeräte.

Wir lernten eine Menge darüber, wie man die Tiefe vermisst, über Strömungen, über Seefahrtszeichen, über die stete Veränderung des Wattenmeeres und der Inseln.

Wir versuchten uns zu merken, was Tonnen “erzählen”. Deren Sprache gehört zum Grundwissen eines jeden, der ein Schiff führen will.

Wir mussten schnell unsere intellektuellen Grenzen akzeptieren.

Das Lesen der Karten machte wirklich Spass.

Das Ziel der Ausfahrt: Eine Tonne einholen und eine Ersatztonne am selben Ort festmachen. Nach zwei Wochen, wenn die alte Tonne mittels Sandstrahlen gereinigt und neu bemalt ist, kommt sie wieder an den ursprünglichen Platz.

Die kleine, gelbe Ersatztonne lag bereit und wurde mit dem Kran auf das Deck gebracht.

Während uns Johannes Werther geduldig alle unsere für ihn wahrscheinlich eher simplen Fragen beantwortete und seine Erklärungen anhand von Karten und technischen Geräten illustrierte, fuhr das Schiff die “Zieltonne” an.

Dabei wurde genau beobachtet, wie tief das Wasser war.

Zur Verankerung von schwimmenden Tonnen werden meistens Betonankersteine mit einem Gewicht von 1.000 bis 5.000 kg und Rundstahlketten für Seezeichenverankerung verwendet. Durch die grossgliedrige Ausführung der Kettenglieder kann beim Einholen von Tonnen der Kranhaken des Tonnenlegerkrans ohne Zwischengeschirr direkt in die Kettenglieder eingehakt werden. Verwendet werden Ketten mit einer Kettenstärke von 16 bis 32 mm Durchmesser.

Zuerst wurde die grosse Tonne aus dem Wasser gezogen.

Auf der rechten Schiffsseite ist ein eiserner Kettenstopper. In ihm wird die Kette, die im Betonankerstein festgemacht ist, unterhalb der Tonne festgemacht, damit die Tonnen ausgewechselt werden können.

Wenn die Tonnen ausgewechselt sind, wird mit einem Hammerschlag der Kettenstopper wieder gelöst.

Beide Tonnen finden für die kurze Zeit des Wechselns Platz auf dem Deck.

Das Ablösen der mit Muscheln besetzten Ketten bedeutet harte Arbeit. Die Mannschaft arbeitet perfekt Hand in Hand unter Einhaltung aller Sicherheitsvorkehrungen.

An der Kette des Krans bleibt ein Plastik hängen.

Die Männer ärgern sich. Immer wieder fischen sie Müll aus dem Wasser.

Die kleine Tonne kommt nun ins Wasser – zwei Wochen wird sie hier die grosse Tonne vertreten.

Bereits auf dem Deck wird die Tonne mit einem kräftigen Wasserstrahl gereinigt.

Dabei entsteht ein Regenbogen.

Die grosse Tonne verfügt über Solarzellen, kann also Licht ausstrahlen. Sie ist “befeuert”.

Zurück an Land wird die grosse Tonne in den Tonnenhof gebracht, hier wird sie “aufgefrischt”. Das Meerwasser “frisst” die Tonnenoberflächen aggressiv an.

Kapitän Johannes Werther erklärt uns auch hier viel zu der Konstruktion, dem Einsatz und vom Nutzen der Tonnen.

Die Struktur der Spitzen ist beispielsweise nicht deshalb so, weil man mit wenig Material viel Stabilität erreichen will, sondern weil so die viereckigen Tonnenspitzen gute Radarreflektoren sind.

Alle diese alten und neuen Tonnen erfüllen für die Seefahrt eine wichtige Aufgabe.

Ich werde nie mehr in meinem Leben eine Boje oder eine Tonne sehen – ohne dabei an den Tag auf dem Tonnenleger “Norden” bei Norderney zu denken!

Das Wichtigste im Leben
finden wir nicht etwa durch intensive Suche,
sondern so,
wie man etwa eine Muschel am Strand findet.
Im Grunde findet es uns.

Jochen Mariss (*1955)

Informationen
Norderney – meine Insel
Wasserstrassen- und Schifffahrtsamt WSA Emden

Dank
Ich danke Harald Henning, Leiter der Deutschen Zentrale für Tourismus in Zürich, und Nadine und Sarah von “Meine Insel Norderney” für diese Reise. Und ganz besonders danke ich Johannes Werther, dem Kapitän der Norden von WSA Emden, für die Zeit, die er uns geschenkt hat. Übrigens, er hat gesagt: “Wir geben Touristen immer gern Antworten auf ihre Fragen und freuen uns über ihr Interesse an unserer Arbeit.”

Musik
Teresa Carreño – Un sueño en el mar (Ein Traum am Meer)

Mix von Norma
Ebbe und Flut
Musik von Norma, Insel Föhr (gehört an einem Anlass der Deutschen Zentrale für Tourismus in Zürich)

Reiseführer Norderney

Cover: https://exlibris.azureedge.net/covers/9783/7701/8388/3/9783770183883xl.jpg

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  1. Mauerhofer Susanne

    Eben habe ich festgestellt, dass auch ich als langjährige Berufs- und Laufbahnberaterin noch nicht alle Berufe kenne!

    Herzlichen Dank, liebe Regula, für diesen interessanten und informativen Beitrag

  2. Eva

    Liebe Regula
    mit grossem Interesse habe ich deinen Beitrag über dieTonnen gelesen. Auf meinen Reisen auf vielen Fähren habe ich mich immer wieder gefragt, wer sich um die Fahrrinnen in untiefen Meeren kümmert. Nun weiss ich Dank deines Beitrages einiges mehr, merci !
    Eine Frage habe ich noch: wie werden die Tonnen im Meeresboden verankert? Werden von Tauchern.Vorrichtungen im Meeresboden festgenacht oder legt man ein Stück Meer quasi trocken, um Befestigungsringe einzubetonieren?

    • Regula Zellweger

      Liebe Eva

      Gute Frage! Ich musste auch nachlesen. Taucher hatte es keine, es wurde nur mit dicken Ketten herumhantiert.
      Es wird unterschieden zwischen schwimmenden, mittels Ankerkette mit dem Grund verbundenen und festen, starr mit dem Grund verbundenen Seezeichen. Tonnen sind schwimmende Seezeichen.
      “Zur Verankerung von Tonnen werden überwiegend Betonankersteine mit einem Gewicht von 1.000 bis 5.000 kg und Rundstahlketten für Seezeichenverankerung verwendet. Durch die grossgliedrige Ausführung der Kettenglieder kann beim Einholen von Tonnen der Kranhaken des Tonnenlegerkrans ohne Zwischengeschirr direkt in die Kettenglieder eingehakt werden. Verwendet werden Ketten mit einer Kettenstärke von 16 bis 32 mm Ø.”
      Da habe ich Infos gefunden. https://www.wsv.de/wsa-toe/schiffe/tonnenwartung/index.html Den Kettenstopper habe ich auch gesehen, er wurde mit einem riesigen Hammer losgeschlagen.
      Ich hätte vor Ort fragen sollen, das nächste Mal nehme ich Dich mit:-)
      Ich habe versucht, mit zwei weiteren Bildercollagen das Ganze zu erklären.

  3. ritanna

    Genau, die obige Frage steht trotz intensiver Darlegung des Nutzen der verschiedenen Tonnen, offen.
    Nämlich; Sind die Ketten der grossen gelben Tonne, selbst der Anker ? von denen die Matrosen die Muscheln wegschlagen?
    Für mich stehen die Matrosen, Kapitäne dieser Tonnenleger auf gleicher “Achtungsstufe” wie die “Blauhelme”, “Besatzung der Rettungshelikopter”, der Bergretter, der Mannen, die unter Tag arbeiten, die Frauen und Mannen auf den “Förderplattformen” im Meer oder Forscherequipen hoch im Norden oder am südlichen Eis.
    Ich bewundere diese alle Menschen, sie müssen zuverlässig und von ihrem Tun voller Überzeugung sein.
    Und Dir Regula meine Hochachtung, dass Du uns Einblick in solche risikoreiche Sicherheitsmissionen einführst. Danke.

  4. Rita

    Völlig neu und total spannend!

  5. Norma

    Ein sehr schöner Artikel!
    Vielen Dank, dass du mein friesisches Lied am Ende erwähnt hast! Es hat mich sehr gefreut dich kennen zu lernen.

    Liebe Grüße

  6. Daniela

    Wunderbar liebe Regula! Einfach schön, wie du mir auf so spannende Weise (nicht nur) mit deinen Blogs neue Welten aufzeigst, die ich nicht kenne! Das schicke ich jetzt gleich meinen zwei Kolleginnen weiter, die immer wieder vom Wattenmeer schwärmen 🙂
    Danke für all das Spannende!

  7. Eva

    Liebe Regula
    Danke, dass du weiter nachgeforscht und zusätzliche Bilder eingefügt hast- nun verstehe ich die Art der Montage von Tonnen noch besser!
    So spannend, was ich durch deine Beiträge immer wieder Neues lerne :-))

  8. Hildegard

    Liebe Regula

    Sicher gibt es unter den Blog-Leserinnen auch heimliche Leser, zu mindest Ehemänner….. Für sie wäre dieser Artikel wohl ganz besonders interessant. Bei mir hat er zudem Lust auf mehr Meer geweckt.

    Herzlich
    Hildegard

  9. Teddy B

    Wow, da kommt Fernweh auf – auch aufgrund der vielen schönen Bilder, Kompliment! Mich hat es dagegen in den Süden verschlagen – eine GAAANZ andere Sache. Mit einem 5-Master durch Süditalien ist auch nicht ohne. Bin überzeugt, dass beide Fahrten EINZIGARTIG sind 🙂 . Magst Du schauen und träumen? https://www.teddy-b.ch/videos/royal-clipper-i-segeln-ins-herz-des-guten-geschmacks/

    • Regula Zellweger

      @Beatrice
      Wunderschön, das Segelschiff! Machst wirklich gute Filme.

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