Im Lindwurm Museum in Stein am Rhein fühle ich mich wohl. Für mich erzählt es aus der Biedermeierzeit. Typisch für diese Zeit ist der Rückzug in die private Idylle – haben wir nicht gerade in der aktuellen geopolitischen Lage Sehnsucht nach heiler Welt?
Das Museum spiegelt das Alltagsleben der Familie Gnehm in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In Europa endete die Biedermeierzeit um 1850. Ich nehme mir die Freiheit, meine Sicht auf das Lebensgefühl des Biedermeier mit dem Haus zum Lindwurm zu verknüpfen.
Das Haus Lindwurm stammt aus dem Mittelalter um 1279. Zwei Zeilenhäuser wurden wahrscheinlich im 16. Jahrhundert zu einem Gebäude zusammengeführt. Auch in späterer Zeit erfuhr das Haus immer wieder Umbauten und Aufstockungen.
1712 wurde das Hinterhaus als Stall und Wirtschaftsgebäude errichtet.
Ständerbauten sind immer eine Augenweide.
Vorder- und Hinterhaus sind über einen Innenhof mit den in Stein am Rhein typischen Laubengängen verbunden.
Die Vorderfront erhielt ihr Empirekleid um 1820.
Das Mädchen im blauen Kleid ist im Bild weiter unten bereits als “Frau Pfarrer” zu sehen.
Johann Jakob Gnehm Oberstleutnant,1810 – 1875, und seine Frau Maria Gnehm Gräflein, 1815 – 1899, bewohnten das Haus mit ihren fünf Kindern Johann Jakob II, Alina, Robert und den Zwillingen Bertha und Emma, sowie rechts hinten einem Schwiegersohn.
Zwischen den beiden Fotos muss der Umzug ins Haus zum Lindwurm erfolgt sein.
Häuser hatten früher anstelle von Nummern Namen. Der Lindwurm ist meist zweibeinig, hat Flügel, einen langen Schwanz und ähnelt einem Drachen.
Man bringt ihn oft in Verbindung mit St. Georg, dem Drachentöter.
1853 kam das Haus zum Lindwurm in den Besitz der Familie Gnehm. In der Schweiz tickten und ticken die Uhren oft langsamer als im Rest von Europa – deshalb kann ich guten Gewissens dieses Haus mit seinen gelebten Werten in die Biedermeierzeit verwurzeln.
Das häusliche Leben bescherte keinen Weitblick – gerade mal zur gegenüberliegenden Häuserzeile.
Allenfalls brachten Gäste die Welt ins Haus. Die Rollenverteilung war klar.
Die Männer sorgten fürs Einkommen, die Frauen fürs traute Heim und eine fröhliche Kinderschar. Und befehligten die arbeitende Bedienstetenschar.
Johann Jakob Gnehm-Gräflein,1810 – 1875, verkörperte als Landwirt und Oberst den patriarchalischen Familienvorstand.
Noch heute lohnt sich ein Spaziergang durch die Reblandschaft um Stein am Rhein.
Eine Weindegustation bei einem innovativen Winzer ist empfehlenswert.
Bereits 150 Jahre früher begann der Reichtum im Keller. Hier lagerten Wein, Most und Bier in Fässern. Die Flaschen bekamen zum Schutz eine Hülle aus Stroh.
Gelagert wurde auch Wintergemüse in mit Sand gefüllten Bottichen, Kartoffeln, Äpfel und Birnen in Hurden. Hier galt es. Mäuse fern zu halten – das war der Job der Hauskatzen.
In der Küche wurde hart gearbeitet.
Kleine Mädchen lernten früh, was Frau beherrschen musste.
Sie wurden nicht mit Glace-Handschuhen angefasst.
Die Moral war klar.
Die Kinder haben einen Schutzengel.
Er wacht Tag und Nacht.
Und wahrscheinlich kannten wilde Jungs auch dieses Erziehungsmittel.
Auch sie hatten geschlechterspeziefische Spielwaren: Zinnsoldaten, Ställe mit Holztieren, Wagen und Fuhrgespanne.
Sie zogen mit Botanisierbüchsen los. Bestimmt fischten sie auch.
Im Winter lockte das Eis.
Das Ziel der Mädchen? Heiraten – möglichst einen vermögenden Mann.
Emsig wurde die Aussteuer zusammengetragen.
Der Umgang mit Textilien wurde spielerisch erlernt.
Vor allem aber in unendlichen Stunden des Handarbeitens.
Geduldig wurden Spitzen geklöppelt.
Mädchen lernten stricken, sticken, nähen und häkeln.
Später kamen Nähmaschinen hinzu. Der Engländer Thomas Saint erhielt bereits 1790 ein Patent für die erste Nähmaschine aus Holz. Singer Nähmaschinen kamen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf den Markt.
Zum Handarbeiten setzte man sich ans Fenster – wegen dem Licht und vor allem, um beobachten zu können, wer wann mit wem auf der Gasse….
Für die Aussteuer wurde auch Geschirr und Besteck gekauft.
Sie lernten, es sich und anderen behaglich zu machen.
Sie beglückten das Umfeld mit musikalischen Darbietungen. Und vor allem klingelten sie nach Bediensteten.
Diese sorgten für saubere Betten.
Sie wuschen.
Im Waschkeller, wo die Waschkessel eingeheizt wurden und Dämpfe durch den Raum waberten.
Sie schleppten die nasse Wäsche übr die kalze Treppe auf den Estrich des Werkgebäudes.
Sie hängten die Wäsche an die Leine.
Wenn die Wäsche trocken war, wurde sie abgenommen.
Entweder gemangelt…
… oder gebügelt. Zusammengefaltet und versorgt.
Schuhe wurden geputzt.
Es gab viel zu tun, um es der Herrschaft behaglich zu machen.
Auch die männlichen Bediensteten und Knechte arbeiteten viel.
Sie sorgten für Brennholz.
Sie arbeiteten auf Äckern, Wiesen und in den Rebbergen.
Sie transportierten Waren.
Sammelten Vorräte.
Produzierten Mehl und lagerten sie in Säcken.
Schwere Mehlsäcke zogen sie der Hauswand entlang hoch in den Estrich.
Sie sorgten für das Federvieh im engen Hof zwischen Wohnhaus und Werkgebäude. Und fütterten die armen Schweine, die ihr ganzes Leben in einem dunklen Loch verbringen mussten.
Sie verrichteten Stallarbeit.
Die ganze Milch- und Fleischwirtschaft vom Betreuen der Tiere bis zum Verarbeiten der Milch und des Fleisches wurde vom Personal zu geringem Lohn bei langen Arbeitszeiten erledigt.
Dieser Blick zurück in alte Zeiten macht nachdenklich, aber auch Spass. Heile Welt???
Es ist gut, nicht zu vergessen. Das Lindwurm Museum ist ein idealer Ort dazu.
Ein Spaziergang durch den Ort lohnt sich – alle diese schmucken Häuser hätten Geschichten zu erzählen.
Nicht verpassen sollte man das Krippenmuseum.
Ein Spaziergang entlang dem Rhein zur Klosterinsel Werd lohnt sich.
Stein am Rhein kann eine Reise auf eine exotische Insel erübrigen.
Nicht in die Ferne, in die Tiefe sollst du reisen.
Ralph Waldo Emerson, 1803 – 1882
Informationen
Museum Lindwurm Öffnungszeiten März bis Oktober, Di – So 10-17 Uhr.
Stein am Rhein
Krippenmuseum
Klosterinsel Werd
Ein Museum, das ich sehr empfehlen kann, ist das Moser Familienmuseum Charlottenfels bei Schaffhausen. Es erzählt von der Familie Moser: Heinrich Moser, 1805 – 1874, Schaffhauser Industriepionier, Uhrmacher und Uhrenfabrikant und von seinem Sohn Henri Moser, 1844 – 1923, Forscher, Reisender, Sammler und Diplomat.
Dank
Ich danke Violette Tanner, deren Herz als Museums-Mitarbeiterin für das Lindwurm Museum schlägt. Sie hat uns eine wunderschöne Führung geschenkt. Ihre Geschichten machten das Museum lebendig.
Musik
Musik und Stimmungsbilder aus dem Biedermeier
Biedermeier Walzer
Quer von Renaissance zu Biedermeier
Eduard Künneke, 1885-1953: Biedermeier Suite
Carl Michael Ziehrer – Herr und Frau Biedermeier, Waltz, op. 546
Literatur
Das Museum Lindwurm spannt einen weiten Bogen rund um die Geschichte des Hauses und der Besitzerfamilien.
Zu der frühen Zeit fällt mir der Name Annette von Droste-Hülsfoff ein, die in Meersburg gelebt hatte.
Der Knabe im Moor Ballade zum Hören
Die Judenbuche
Die Novelle “Die Judenbuche” von Annette von Droste-Hülshoff wurde im Jahr 1842 während der Biedermeier-Epoche veröffentlicht. Es geht um die Entwicklung des kleinbürgerlichen Protagonisten Friedrich Mergel im westfälischen Dorf B. (der genaue Name des Dorfes wird nicht genannt). Kern der Handlung ist ein Mordfall in jenem Dorf, der erst Jahrzehnte später aufgelöst wird.
Utta Keppler – Die Droste – Biografie von Annette von Droste-Hülshoff
Bei diesem Buch handelt es sich um einen biographischen Roman, der von dem Leben der Annette von Droste-Hülshoff erzählt. Die Schriftstellerin und Autorin, die besonders als eine der bedeutendsten deutschen Dichterin bekannt ist, führte ein sehr zurückgezogenes Leben, ging jedoch auch auf mehrere grosse Reisen, die sie insbesondere literarisch beeinflussten. Ergänzend gibt es einen Anhang, der sehr übersichtlich noch einmal kurze Informationen über die genannten Personen gibt.
Theodor Fontane und Gottfried Keller lebten beispielsweise nach dem Biedermeier, den man 1815 bis 1848 ansiedelt, zur Zeit des Realismus von 1848 bis 1890. Diese Phasen gehen ineinander über, Entwicklungen in der Schweiz setzten eher später als in Deutschland ein.
Thomas Mann, geboren 1875 in Lübeck, zeigt beispielsweise mit den Buddenbrooks eine Familiengeschichte, die in ähnlicher Form auch in Stein am Rhein gespielt haben könnte. Ein Besuch des Buddenbrookhauses in Lübeck zeigt Parallelen auf.
Ein Museum, das ich sehr empfehlen kann, ist das Moser Familienmuseum Charlottenfels bei Schaffhausen. Es erzählt von der Familie Moser: Heinrich Moser, 1805 – 1874, Schaffhauser Industriepionier, Uhrmacher und Uhrenfabrikant und von seinem Sohn Henri Moser, 1844 – 1923, Forscher, Reisender, Sammler und Diplomat.
Mary
Andere Zeiten…sehr spannend. Danke!
Renate Lehnherr
Danke für den interessanten Einblick!
Von einem kundigen Mann, der in Stein am Rhein aufgewachsen ist, habe ich vernommen, dass es eine Stiftung gibt, die Geld zur Verfügung stellt um die Häuser in Stand zu halten. Anscheinend haben sie eher Mühe, das Geld verteilen zu können. 😉 ich finde diese Information noch spannend, gerade in der heutigen Zeit💞
Herzliche Grüsse
Renate
Regula Zellweger
Danke, ja, liebe Renate – genügend Ressourcen für kulturelle Projekte sind eher selten. Danke für die Info!
Irene
Ein Besuch im Lindwurm ist es allemal wert ist man in Stein am Rhein. Ich habe mit 10 Frauen vom Frauenverein, 2023 unseren Jahresausflug dorthin gemacht. Die Frauen sind eher “älteren” Semesters und da gab es viele ah’s und oh’s und weisst Du noch oder kennst du das noch. Allso sehr sehr empfehlenswert.
Eine schöne Herbstzeit mit viel Farbe in der Natur und herzliche Grüsse.
Rolf
War wohl mein bequemster Museumsbesuch im Lehnstuhl
In meinem Wohnzimmer Dank deiner wie immer anschaulichen
Schilderung.
Violette Tanner
Liebe Regula ganz herzlichen Dank für den wunderschönen, informativen und gelungenen Blog Beitrag über das Museum Lindwurm in Stein am Rhein. Du gibst dabei einen sehr umfassenden Einblick in die damalige Zeit des 19 Jhd., die Leben der ehemaligen Bewohner und die Geschichte des Museums.
Herzlichen Dank und weiterhin viele spannende Erlebnisse.
p.s. Deine Blogbeiträge sind jeweils eine Augenweide und natürlich immer sehr informativ gestaltet.
Herzlich Violette
Kathrina Redmann
Wunderbarer Blog, so alles zusammengefasst zu erhalten und durch den “Lindwurm” zu schweifen. Erinnert mich natürlich an unsere unvergessliche Reise nach Stein am Rhein vor ein paar Jahren.
Und es erinnert mich an meinen Vater, der auf Burg Hohenklingen aufgewachsen ist.
Er hat ein Buch geschrieben, in dem vieles, was im Lindwurm zu sehen ist, mit täglichem Leben gefüllt ist. 1999 wurde das Buch veröffentlicht und er konnte mit 90 Jahren an der Vernissage teilnehmen. (Jakob Bryner: “Meine Jugend auf Hohenklingen.” Erinnerungen eines alten Staaners.
Vielen Dank liebe Regula