Letzte Woche habe ich meine Grenzen überschritten – ich bin stolz, werde diese sportliche Herausforderung aber nie mehr in meinem Leben annehmen.
Meine Wiener Freundin Doris und ich wanderten acht Stunden – ohne nennenswerte Pausen – rund 350 Höhenmeter hinauf und 850 hinunter. Dazu muss ich gestehen: Ich bin 71 Jahre alt, untrainiert und übergewichtig. Und ich habe es geschafft! Was bleibt? Etwas Knieschmerzen und ein gesteigerter Selbstwirksamkeitsglauben. Yes, I did it!
Ich habe ein Buch mit dem Titel “my bucket list”. Es ist fast leer, denn es ist gedacht, dass ich es selbst fülle, “betexte”.
Der Begriff “Bucket List” kommt aus dem Amerikanischen und bedeutet wörtlich übersetzt „Eimerliste“. Die Herkunft ist eher makaber und erinnert an alte Westernfilme. Wer gehängt wurde, musste sich auf einen Eimer stellen und bekam die Schlinge um den Hals gelegt. Dann kickte jemand der Eimer weg – und das war’s dann.
Bucket List ist eine Liste mit Dingen, die man im restlichen Leben gerne noch tun oder erreichen möchte. Und da hatte ich reingeschrieben: Über die Aspi-Titter Hängebrücke gehen.
Doch dies bedeutete, einen weit längeren und steileren Weg zu schaffen, als wir es je gedacht hatten.
Es gibt einen Punkt, da scheint eine Umkehr schwieriger zu sein, als am Ziel dranzubleiben. Wir hatten uns beim Planen völlig verschätzt und einen Wanderweg gewählt, den es in der Realität nicht gab.
Wie starteten von unserem Chalet in Bellwald. Vom Balkon aus sieht die Welt schon ziemlich alpin aus. Der Blick geht über das Fieschertal zum Chüeboden und dem Eggishorn.
Hinter dem Eggishorn schmilzt der Aletschgletscher vor sich hin. Dieser Hinweis, damit mit man sich vorstellen kann, wo wir uns in der Geografie bewegten.
Unsere Wanderung führte von Bellwald hoch zum Schranni, dann hinunter zur Hängebrücke und weiter hinunter ins Fieschertal. Würde man von dort wieder steil und weit hochsteigen, käme man zum Märjelensee und zum Aletschgletscher.
Anders als Sanna nutzten wir nicht den Sessellift. Die Abzweigung bei “Mutti” Richtung Schranni erfolgt etwa in der Mitte der Sesselbahnstrecke.
Video von Doris
Von “Mutti” aus hatten wir bereits einen Rundblick ins Fieschertal, zum Eggishorn und zum Fiescherhorn.
Zu unseren Füssen weideten Eringerkühe, die bekannten Walliser “Kampfkühe”, die ich gern mag. Später mussten wir durch eine Herde durchgehen und die Stadt-Wienerin Doris brauchte schon etwas Mut.
Der Weg führte uns parallel zum Hang, mit Auf und Ab.
Wir folgten der Leite mit Namen “Bellwalderi”. Es gibt sie seit 1371, sie hat eine Länge von fünf Kilometern. Gefasst wird sie auf 2040 Meter über Meer.
Im Goms heissen Suonen “Leite”. Suonen bestehen aus offenen Gräben, die das kostbare Wasser möglichst ohne Gefälle von den Gebirgsbächen auf die trockenen Weiden bringen, sodass möglichst viel Land bewässert werden kann. Ein Tag vor unserer Wanderung erschien ein Artikel über Suonen, den ich für den Walliser Boten geschrieben hatte.
Hier fliesst relativ viel Wasser, weil es tags zuvor geregnet hatte.
Dies war mit rund 1850 Metern der höchste Punkt unserer Wanderung.
Doris ging die fünf Minuten zum “Känzeli”, um die Aussicht zu geniessen.
Gletscherblick heisst es hier. Als wir vor 30 Jahren unser Chalet bauten, konnte man hier noch auf den Fieschergletscher hinunterschauen.
Video: Doris
Jetzt ist der Gletscher weg. Noch ein paar Felder mit ewigem Schnee kann man sehen.
Von da an gings bergab. Steil bergab. Endlos bergab.
Ohne meine beiden Wanderstöcke hätte ich es nie geschafft.
Diese Treppe war noch heilig. Es gab auch freischwebende Treppen mit Gitterstufen.
Das Wasser nimmt den noch steileren Weg als wir. 🙂
Wir waren überglücklich, als wir die Brücke weit unter uns sahen. Und weiter ging es abwärts.
Noch ein kleines Stück.
Endlich!
Doris startete zuerst – ohne anzuhalten und ohne runterzuschauen überquert sie die Brücke im Eiltempo.
Länge: 60 Meter, Gewicht 22 Tonnen, Kosten: CHF 500’000, Anzahl Tritte
1’894, Tiefe der Schlucht: 120 Meter, Material: Holz und Stahl, Eröffnung:
14. August 2016.
Ich fotografierte mitten auf der Brücke 120 Meter nach unten – und schon war der Akku leer.
Nun ging es endlos über steile Pfade ins Fieschertal hinunter. Ich weiss jetzt, wie es sich anfühlt, wenn die Knie schlottern. Wir hatten keine Wahl, wir mussten runter in die Zivilisation – und die drohenden Gewitterwolken trieben uns zur Eile an.
Alle paar Meter brummte ich vor mich hin: “Ich habe längst alle meine Grenzen überschritten.” Im Tal erbarmte sich ein Paar unser und nahm uns das letzte Stück bis zum Bahnhof Fiesch mit.
Mit Zug und Seilbahn kehrten wir nach Bellwald zurück.
Der letzte Aufstieg führte zum Chalet hinauf.
Das Thema Grenzen setzen, Grenzen respektieren, Grenzen überschreiten hat mich immer wieder fasziniert. Sich bewusst werden, welche Grenzen einem gesetzt sind – und welche man selbst setzt, welche Sinn machen und welche nicht – darüber lohnt es sich immer wieder nachzudenken.
Diese Zeilen schrieb ich 2012:
Meine Grenzen gehören mir
Grenzen setzen
heisst Markierungen anbringen,
die gesehen, gehört, gespürt
und respektiert werden.
Grenzen setzen
heisst schützen,
nicht verbarrikadieren
oder einmauern.
Ich will lernen
Grenzen zu setzen.
Meine Grenzen,
für mich,
mir zuliebe.
Das reicht.
Nicht gegen andere.
Meine Grenzen gehören mir.
Und wenn ich mag,
überhüpf ich sie leichtfüssig.
Mir zuliebe.
Als Doris abends aus dem Fenster schaute, ästen drei Rehe vor dem Chalet. Hier in den Bergen baut man keine Zäune um Besitz anzuzeigen, man setzt keine unnötigen Grenzen.
Ich hatte an diesem Tag meine Grenzen überschritten. Mehrfach.
Und doch mein Fazit: Es gibt mir Frechmut und Kraft, trotz fortschreitendem Alter Dinge zu wagen, von denen ich glaube, sie (eigentlich) nicht zu schaffen. Und dann geht es doch. Es gilt dranzubleiben und die Bucketlist mit Zielen zu füllen, die Freude bereiten und den Selbstwirksamkeitsglauben stärken.
Nur wer aufbricht, kommt an Grenzen.
Walter Ludin
Informationen
Artikel Walliser Bote, Suonen
Blogbetrag sich abgrenzen 2020
Dank
Ich danke Doris für Ihre Fürsorge und Geduld. Danke fürs Rucksacktragen. Danke fürs Auffüllen der Wasserflasche aus den Bächen. Und danke, dass Du, anders als ich, Geld für Zug und Seilbahn mit dabeihattest. Ohne Dich wäre ich nie nach Bellwald zurückgekommen!
Musik
Joachim Raff: Symphony Nº7 “In den Alpen” Op.201(1875).
Richard Strauss: Eine Alpensinfonie
Franz Liszt: Album d’un voyageur, S156 – III: Paraphrases – No. 10: Ranz de vaches (de F Huber) – Aufzug auf die Alpe
Jean Daetwyler: Suite montagnarde
Alphornmusik
Bücher
Nach oben sinken – Wilfried Meichtry
“Es ist kein Unglück, hier geboren zu sein. Ein besonderes Glück ist es aber auch nicht.”
Dieser Roman erzählt von einem fantasievollen Jugendlichen, der an der rohen Enge der katholischen Dorfwelt der 1970er und 1980er Jahre leidet und gegen eine unnahbare Erwachsenenwelt ankämpft, die vor lauter Schweigen die Worte vergessen hat. Immer mehr zieht sich der Junge, der nach Nähe und Zuneigung sucht, in die Welt seiner Fantasie zurück und wird zum Aussenseiter im Dorf. Als er zufällig entdeckt, dass er einen Onkel hat, der vor Jahrzehnten spurlos verschwunden ist, ist er überzeugt, in diesem seinen einzig wahren Verwandten gefunden zu haben. Bei seinen Nachforschungen allerdings rennt er erneut gegen eine Mauer des Schweigens an.
Walliser Totentanz – Werner Ryser
Im 16. Jahrhundert ist das Wallis Schauplatz im Kampf um die Vorherrschaft in Europa. Inmitten von Krieg, Pest und der Jagd auf Hexen hat die Kräuterfrau Magdalena Capelani einen riskanten Beruf. Zwar wird ihr Wissen gebraucht, aber man traut ihr nicht: Wer sich mit den Kräften der Natur auskennt, steht mit dem Teufel im Bund. Und tatsächlich verfügt Magdalena über ein zweites Gesicht. Sie sieht den Tod ihres Bruders voraus, der in einer der Schlachten stirbt, in denen sich Kardinal Matthäus Schiner mit dem mächtigen Volkstribun Georg Supersaxo befehdet. Erst durch die Schlacht bei Marignano beginnt der unaufhaltsame Abstieg der Papsttreuen. Ein atemberaubendes Drama über die Geschichte der Schweiz, ein Sittengemälde der Renaissance und ein Epos über Intrige, Macht, Liebe und Überleben.
Chresta Arlette
Cool hast du das geschaft- Hut ab😊
Rebekka
So ein ermutigendes Erlebnis und so ein schöner Artikel! Herzlichen Glückwunsch zum Frechmut und zum Grenzen überschreiten. 🎉 Und danke für den Wandertipp über die Brücke!
Regula Zellweger
Du und Dein Mann und Maude, Ihr seid herzlich im Chalet willkommen. Ich habe eine mega Foto von Gaëtan von der neuen Staumauer am Grimselpass gesehen. Super Fotograf! Vom Grimsel ist es nicht mehr so weit nach Bellwlad.
Irmgard
Liebe Regula,
jetzt bist du so alt wie ich wa,r als wir uns Im Kinderdorf in Marokko kennengelernt haben. Das scheint ein Alter zu sein, in dem man sich noch mal was trauen will, ha, ha! Als Kind der Nordsee wäre ich niemals auf diese Brücke gegangen – brrrh! Glückwunsch! Ich finde alle deine Beiträge grandios, aber diesen mit den selbstgesetzten Grenzen ganz besonders. Danke für deine bereichernden Artikel.
Theresa
Liebe Regula
Herzlichen Dank, dass du mich mitgenommen hast auf diese grandiose Wanderung. Mit meiner gebrochenen Zehe muss ich leider zur Zeit darauf verzichten.
Das Wort Frechmut gefällt mir!
Auf meiner Bucket List steht unter anderem, einmal auf den Tödi steigen. Von dort existiert ein altes Foto mit meiner Mama darauf. Meine Mama auf einem so hohen Berg! Sie ist sehr früh verstorben und es gibt wenig Erinnerungen. Aber auf diesem Bild wirkt sie so glücklich.
Regula Zellweger
Liebe Teresa
Solche Erinnerungsbilder sind Gold wert! Und sobald die Zehe wieder geheilt ist (gute Besserung!), hoffe ich, dass Du Dir diese Wanderung schenkst! Das ist ein sinnvolles Ziel in Deiner Bucket List, denn es ist auch ein Zeichen der Liebe zu Deiner Mama.
Regula
chapeau 😅
für mich isch so lang nitschi gar nüt 🥴 – darüf na ehner – gradüs am liebschte 😝
jaja – alt wärde tuets eifach 🙄 i vielem… 😉
Cornelia Jacomet
Toller Artikel, sehr authentisch und berührend geschrieben.
Mary
Soooo tapfer!! Kannst mega stolz auf dich sein. ❤️
Gilomen Brigitte
Liebe Regula, meinen allergrössten Respekt für deine Leistung! Danke für den eindrücklichen Bericht und die schönen Bilder.
Ritanna
Dazu mein Kommentar: Kompliment , Du Regula hast auch die Aussicht in dich hinein genommen. Es ist wirklich erhaben, die Berge, die Felsen, Steine, der blaue Himmel, das Grün und – die Kraft die in uns ist – das alles einfach sooo, gratis.
Ich habe 10 Jahre mehr, mein stündiger Morgenlauf darf nicht fehlen, damit ich die Nachtwachen auch sitzend leisten kann. Ende Juli sind die Jungen Enkel bis auf 2242 Meter hoch an die Zechnerkarspitze. Mit meiner jüngsten Enkelin haben wir den gleichen Weg unter die Füsse genommen in unserem gemeinsamen Tempo einfach doppelt so lang als die andern bis vor den steilen Aufstieg auf 1900m ü M.
Lediglich, da ich ja die 16jährige Enkelin bei guter Stimmung hielt, ihr zuhörte anstatt auf den Boden zu achten, rutschte ich wie auf einem Spickkugeli aus. Rippe gebrochen, doch keine Lungenverletzung! Also alles gut! Es heilt ebenfalls von selber.
Doris
“Hut ab” Regula, du frechmütige. Da ich solche Wanderungen nicht mehr schaffe, habe ich mich gefreut, dass du mich im quasi im Rucksack mitgenommen hast. Beim Blick von der Brücke ist mir echt schwindlig geworden. Danke dir.
Hans-Peter
Liebe Regula
Danke fürs mitnehmen und teilhaben an deinen Grenzerfahrungen. Auch ich denke im Moment sehr über Grenzerfahrungen -setzen, -abbrechen, -überwinden, -umstecken, fremde wie eigene überdenken, nach.
Auf meiner” pucket Li”st steht auch das überschreiten einer solchen Hängebrücke, obwohl ich weiss, dass ich nicht schwindelfrei bin.
Maja
Super, was ihr geschafft habt! Schön, dass du uns teilhaben lässt an Themen wie grandiose und schützenswerte Bergwelt, Selbstwirksamkeit und innere Grenzen ausloten!
Danke herzlich auch für das Gedicht “Meine Grenzen gehören mir”.
Daniel
Liebe Regula
Was für eine Leistung – chapeau!
Mach unbedingt weiter so.
Es grüsst die Streif 😉
Und wenn Du dir dann einmal eine ruhigere Reiseform verdient hast, um deinem muskelgestählten Body einmal eine Auszeit zu gönnen, dann planen wir einmal eine inspirierende und genussvolle Flussreise.