Treno Gottardo – wie einst Eugen

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Ich gehöre zu der Generation, die den Bahnhof Göschenen von Modelleisenbahnen kannte und die Zentrilfugalkraft mittels Kehrtunnels bei Wassen erklärt bekam. Tempi passati!

Eine Szene im Buch «Mein Name ist Eugen» hat mir immer besonders gefallen. Es ging um einen physikalischen Versuch in den Kehrtunneln bei Wassen, genauer um das direkte, heftige Zusammentreffen eines Pendels in der Form eines Bergschuhs  und einer 25 Liter Sirupflasche.

«Wer noch nie in einem Drittklassabteil der Bundesbahn 25 Liter Sirup verschüttet hat, hat kein Recht zu behaupten, eine Gotthardfahrt sei schön», behauptet Eugen. «So war der Sirup hin und die schweizerische Bundesbahn empört. Der Wagen musste ausgewechselt werden. Das kostete fünf Franken.»
So war das damals. Der Roman von Klaus Schädelin erschien 1955 und das Buch wurde später verfilmt.

Ich wollte also die alte Gotthardbahnstrecke befahren und das kann man dank der Schweizerischen Südostbahn SOB, die den Treno Gottardo in Kooperation mit der SBB betreibt und auch Tickets und vieles mehr auf ihrer Webseite anbietet. Eine gute Sache!

Morgens sass ich also im Treno Gottardo Richtung Locarno. Und schaute hinaus auf die Leute, die zur Arbeit mussten. 🙂

Der Treno Gottardo der Schweizerischen Südostbahn AG (SOB) verkehrt stündlich alternierend von Zürich und Basel bis nach Locarno. Die Reise über die Gotthard-Panoramastrecke ohne Umsteigen bis ins Tessin, durch die Leventina, nach Bellinzona und Locarno hat einiges zu bieten.
Die modernen, kupferfarbenen Niederflurtriebzüge des Typs Traverso verfügen über grosse Fenster, ein helles Interieur, ein liebevoll gestaltetes Familienabteil und zwei Bistrozonen.

Die gemalten Bilder im Zug stammen von der Künstlerin Corinne Weidmann. Die SOB hat verschiedene Bilder für ihre drei touristischen Linien Voralpen-Express, Treno Gottardo und Aare Linth bestellt, welche die Schönheiten der Strecken aus verschiedenen Blickwinkeln und in verschiedenen Jahreszeiten zeigen.

Spätestens am Zugersee wurde mir klar: “Es ist fast unmöglich, aus den verschlossenen Fenstern Fotos ohne Spiegelungen zu machen. Während der ganzen Fahrt durch den hellen Morgen war die Wagenbeleuchtung angeschaltet.
Die Lichtschienen spiegelten sich immer – vielleicht konnte man sie noch als Kondensstreifen am Himmel zu integrieren versuchen – aber das Fotografieren blieb frustrierend.

Die Fotos sind vielleicht farblich hübsch, aber nicht für einen Reisebericht geeignet.
Da lob ich mir doch den Waggon 3. Klasse aus den 50-er Jahren, der bestimmt nicht von Kunstlicht überflutet war und wo man noch die Fenster öffnen konnte. (Eugen und seine Freunde liessen ihre Leintücher flattern – und froren danach im Zeltlager.)

Der Blick fällt auf Immensee und die Halbinsel Chiemen im Zugersee.
Die Wolken schleichen um die Rigi.

Mein Blick fällt auf den Zugersee und die für diese Region typischen Häuser.

Der Zug rollte weiter nach Arth – ein Ort, dem man automatisch Goldau anhängt.

Unser kupferfarbener Zug passierte “anderes Rollmaterial”.

Ich staune immer wieder über Menschen, die alles über Zugs- oder Flugzeugmodelle wissen.

Wir kamen am grossen und am kleinen Mythen vorbei.

Im oberen Reusstal blickten wir zur Autobahn-Galerie. Normalerweise fahre ich auf dieser Stecke ins Wallis und blicke zu den Bahngeleisen hinüber.

Langsam näherten wir uns Wassen.

Um diese Fotos zu machen, musste ich den Platz wechseln. Der Zug war gut besetzt, vor allem ältere Semester genossen die Bahn-Nostalgiestrecke.

Und noch ein drittes Mal Hektik von Fenster zu Fenster – und schwupps verschwand Wassen hinter Baumwipfeln.

Illustration: Pechristener (Rendering mit Maperitive, Text und Integration Datei:SBB 2015.svg: Pechristener, CC BY-SA 2.0, via Wikimedia Commons

2016 wurde der neue Gotthard-Basistunnel eröffnet und die heutige Jugend wird die Fliehkraft in Kehrtunneln nie mehr so hautnah erleben, wie Eugen und seine Freunde. Diese Fragen werden nie mehr auftauchen: “Wie reinigt man einen Knaben (genannt Frieda) von so viel Himbeersirup? Ohne dass es die Bundesbahnen merken? Wie heilt man den Schaden auf Bänken, Lehnen, Fenstern und am Boden? — Ich weiss nur noch, dass wir ihn nach vielem Bemühen zwar nicht weggebracht, aber doch überall gerecht verteilt hatten. Ich weiss ferner noch, dass keine vier Minuten nachher der Kondukteur auf seinem Rücken lag und seinen Anteil am Sirup bekam, und zwar mehr äusserlich. Ich weiss auch noch den Zorn des Publikums und die Trauer der Frieda, bloss eines weiss ich ganz und gar nicht: Wie das Land zwischen Amsteg und Airolo aussieht.”
Ich weiss es!

10 Minuten dauerte die Fahrt durch den Tunnel. Und plötzlich: Airolo! An einer Hausfassade begrüsst die Passanten das bekannte Gemälde der Gotthardpost von Rudolf Koller.

Die Werke dieses Malers liebte ich bereits als Kind.

Airolo ist geprägt vom Tunnelbau vor über hundert Jahren.

Aus dem Zugfenster entdeckte ich das Denkmal, das der Menschen gedenkt, die am Tunnel gearbeitet hatten.

Und der Menschen, die dabei den Tod fanden.

Nun ging es die Leventina hinunter. Ich kannte nun die Dörfer, an denen wir vorbeisausten.

Im letzten März hatte ich auf meiner Reise ins Bleniotal die Autobahn in Airolo verlassen und die Leventina gemächlich von Dorf zu Dorf, meist weit über dem Bahngeleise erkundigt.

Der Treno Gottarde hält an verschiedenen attraktiven Ausflugsorten – wo man eine Pause einschalten und sich etwas genauer ansehen kann. Beispielsweise in Faido.

Ein kleiner Spaziergang führt zu einer grossen Picknickwiese, wo man das Rauschen des Piumogna Wasserfalls hören kann.

Auf dem Steg kann man die kühle Gischt auf der Haut spüren.

Auch in Bellinzona lohnt sich ein Unterbruch der Zugfahrt. Ganz besonders am Samstagmorgen, wenn Markt ist.

Eisenbahn, Autostrasse und Autobahn teilen sich den Talboden.

Kleine Wasserfälle stürzen ins Tal.

Die Landschaft wurde sanfter und in Bellinzona hielt der Zug.

In Giubiasco arbeitete vor einem Menschenleben meine Mutter in der Linoleumfabrik.

Und schliesslich war ich im sonnigen Süden, in Locarno.

Wer das Feeling von historischen Fahrgeräuschen erleben will, steigt in Locarno in die Centovalli Bahn um. Sie fährt vom unterirdischen Bahnhof FART ab und ruckelt und quietscht um die Kurven.

Vom Centovalli, von Rasa und Intragna aber in einem späteren Blogbeitrag.

Wenn keine Eisenbahnen gebaut werden,
wie sollen wir zur rechten Zeit
in den Himmel kommen?

Henry David Thoreau (1817 – 1862)

Informationen
Treno Gottardo SOB
Treno Gottardo – Ticino Tourismus und weiter Angebote für Bahn-Fans im Tessin

Dank
Ich danke der SOB für die Einladung zu dieser Zugfahrt und Jutta Ulrich von Ticino Tourismus für die Organisation dieser Reise.

Musik
String Symphony No. 11 in F Major “Commodo Schweizerlied“: II. Scherzo
Der Schweizerbub, F. Chopin
Sir James Galway, Morlacchi, Il Pastore Svizzero
Tonarchiv Schweizer Volksmusik
Die grössten Schweizer Hits | SRF Musik
Der letzte Postillon vom Gotthard
Übere Gotthard flüged Bräme

Buchtipp
Mein Name ist Eugen

Filmausschnitte
Mein Name ist Eugen, Gotthardbahn
Kino kurz Mein Name ist Eugen Peter Sutter (mit Szene mit Sirup)
Lustigste Szenen 1. aus “Mein Name ist Eugen”
Lustigste Szenen 2. aus “Mein Name ist Eugen”
Lustigste Szenen 3. aus “Mein Name ist Eugen”
Lustigste Szenen 4. aus “Mein Name ist Eugen”

 

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  1. ritanna

    Wenn keine Eisenbahnen gebaut werden,
    wie sollen wir zur rechten Zeit
    in den Himmel kommen?
    Henry David Thoreau (1817 – 1862)
    Ja 150zig Jahre später teilen sich so viele Flugzeuge das Himmelsgewölbe wie Ameisen ihr Hoheitsgebiet. Also legen wir uns selber einen “bilanzierten Fahrplan” zurecht oder warten, bis ein Bummelzug kommt, uns mitnimmt.
    Mein Name ist Eugen und die Gotthardbahn lässt den Gedanken und Träumereien soviel Platz, sodass ich gerne auf die Centovalli Bahn warte, dort einsteige und weiter vom sonnig warmen Tessin träume. Dieser regnerische, windige Maitag ist genau richtig, Deinen Blogg zu geniessen. Danke.

  2. Kathrina Redmann

    So viele alte Erinnerungen leben auf: Schulreisen, Fahrten in unsere alljährliche Malwoche. Danke, liebe Regula, für die schöne Variante in einer Zeit, da wir ohnehin oft nur noch von den Erinnerungen zehren.

  3. Emil Wettstein

    Mein Grossvater arbeitete nach dem 1. Weltkrieg auch in der Linoleumfabrik. Weil die Mieten günstiger waren wohnte er mit seiner Familie in Giornico. Meine Mutter erzählte aus dieser Zeit: “Weil Pappa dem einzigen Ladeninhaber im Dorf bei der Wahl zum Gemeindepräsidenten die Stimme gegeben hatte, durften wir einen ganzen Monat das Brot umsonst beziehen. So wurde Politik gemacht.
    Der Fluss Tessin war unser grosser Spielplatz. Viel Wasser hatte er selten und wie oft er uns die Badewanne ersetzt hat, weiss ich nicht mehr. Schmalhans war oft Küchenmeister, aber wir waren doch zusammen.”

    • Regula Zellweger

      Danke für die schönen Erinnerungen. Für mich war damals, anfangs 60-er Jahre, die Morobbia die “Badewanne”. Ich war mit meiner Mutter dort in den Ferien.

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