Ein Chalet in den Bergen

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Zuhause bleiben. Restaurants und Läden ausser Lebensmittelgeschäften, Blumenläden und Apotheken bleiben geschlossen. Museen sind geschlossen. Kulturelle Events finden nicht statt. Aktivitäten verlagern sich von Geselligkeit, Shoppen und Kulturgenuss auf Cocooning zuhause.

Und plötzlich hat man den Zuhause-Koller, den Home-Blues, das Dach fällt auf den Kopf, man braucht einen Tapetenwechsel.

“My home is my castle”, wissen nicht nur die Engländer. Zuhause ist es am schönsten, finden die meisten – aber nur, wenn sie von zuhause weg waren, bei der Rückkehr. Dann realisiert man erst, dass ein schönes Zuhause ein Privileg ist.

In Zeiten der Pandemie ist es ein Glücksfall, in der Familie ein Ferienhaus zu besitzen, wohin man ausweichen kann, wenn’s zuhause zu eng wird.

Mit dem veränderten Standort verändert sich auch die Sicht auf die Dinge.
Vor anderen Kulissen werden andere Stücke gespielt. In den Bergen hat man nicht nur rein visuell einen grösseren Weitblick, auch die Gedanken kommen manchmal aus dem Grübeln zum Höhen-, Gleit- und vielleicht Kunstflug.

Unter dem Motto “Zuhause bleiben” und mit dem empfohlenen oder verordneten Homeoffice kann es eng werden.

A Room of One’s Own, ein Zimmer für sich allein, hat 1929 Virginia Woolf mit der gleichnamigen Novelle gefordert. Sie propagierte, dass Frauen Raum und Zeit bekommen, um sich zu entfalten, ihre Talente zu entdecken und weiterzuentwickeln.
Heute gilt dieser Wunsch für beide Geschlechter, denn Männer, die heute in Beruf und Familie “eingespannt” sind, haben auch zu wenig Raum und Zeit, um sich selbst zu begegnen, mit sich selbst allein zu sein, sich selbst nahe zu kommen.

In den ersten beiden Januarwochen war ich teilweise eingeschneit in der Oberwalliser Gemeinde Bellwald – im Goms verhinderte die Lawinengefahr die Durchfahrt zum Furkatunnel.

Vor rund einem Viertel Jahrhundert bauten wir unser Chalet in Bellwald. Seither war ich dort mehrmals eingeschneit – und habe es genossen, Sitzungen ohne schlechtes Gewissen absagen zu können. “Sorry, ich bin eingeschneit!”

Wir mussten uns ausbuddeln, eine “Hohle Gasse” zur Zivilisation schaufeln.

Zum Glück weiss ich genau, wo unser Parkplatz ist – ansonsten wäre es schwierig gewesen, mein Auto zu finden. Peinlich, wenn ich ein anderes Auto ausgegraben hätte!

Der Kühlschrank ist gefüllt und wir liessen uns von dessen Inhalt zum Kochen motivieren. “Es gitt, was’ hätt”.

Zuerst richte ich immer meinen Arbeitsplatz ein. Hier sind einige meiner Bücher entstanden.

Dabei fühle ich mich im lichtdurchfluteten Raum und mit der Sicht ins Freie sehr wohl.

Besonders gemütlich ist es, wenn man bei Sonnenschein auf dem über drei Seiten des Hauses führenden Balkon einen Apéro oder ein Essen geniessen kann.

Während der Tiefschneetage war es dafür zu kalt. Dafür kamen die Dohlen zum Take away.

Im Chalet verlangsame ich mich immer. Ich schlafe, trödle herum, geniesse Musik, Bücher und gemütliche Gespräche über die aktuelle Situation, vor allem aber auch über Wünsche und Träume für die Zukunft.

Mit dem Blick aus dem Fenster kann ich hier – oft Tagebuch schreibend – Ordnung und Struktur in mein Leben bringen. Die Vorsätze bleiben oft am Papier kleben.  Nichtsdestotrotz, es tut gut, Alternativen zum Bisherigen zu überdenken, Ruhe zu finden und sich auch zu mögen, wenn man nicht alle Ziele erreicht.

Ich bin gern im Mai dort, im Mai und im November ist das Dorf ausgestorben.

Ich bin gern im Juni dort, dann explodiert die Natur und ich freue mich über die Bergblumen, die mein Vater fotografierte und deren Namen meine Mutter kannte. Damals wurde die Basis für die Liebe zur Bergwelt gelegt.
Im Juni blühen auch die Lupinen vor dem Haus.

Sie starteten einen Rückeroberungsversuch und wuchsen auf dem grossen Sitzplatz. Sie hoben mit ihren Wurzeln die Granitsteinplatten an. Power of nature!
Nun sind sie in die Wiese verbannt. Da hat es viel mehr Platz.

Lupinen sind auch die Blumen, die symbolisch meinen Blog schmücken.

Meine Lieblingsjahreszeit ist der Herbst, wenn die Lärchen goldgelb werden, das Licht sanft und die Temperaturen angenehm sind. Die letzte Sonnenblume blühte noch im November.

Auch die Tageszeiten nehme ich intensiv wahr. Morgens erreicht die Sonne zuerst den kleinen Sitzplatz im Nordosten des Chalets.

Am Abend rücken die Pistenfahrzeige aus und man sieht sie hoch oben als sich bewegende, blinkende Lichter.

Abends beobachte ich gern den Mond – und wenn es ganz dunkel ist, die zahllosen Sterne, die ich im Mittelland wegen dem Lichtsmog nie so zahlreich beobachten kann.

Faszinierend sind die Stimmungen am Himmel.

Die Farben erscheinen fast schon kitschig.

Während der letzten Wochen erinnerte ich mich an Kurse, die wir vor Jahren im Rahmen von Outplacement hier durchführten.

Die Teilnehmenden, die alle ihre Arbeitsstelle verloren hatten, wohnten im nahen Hotel, mein Chalet war die Schulstube.

Wir wanderten, im Winter mit Schneeschuhen, und machten in der Natur Übungen.

Ich erinnere mich an eine Übung:
Die Teilnehmenden schritten im unberührten Schnee ein Feld ab, mit dem sie den Umfang ihrer beruflichen Möglichkeiten aufzeichneten. Sie zählten auf, was sie als Alternativen zum Bisherigen erreichen könnten. Danach mussten sie sich ausserhalb ihres selbst definierten Feldes bewegen und dabei nachdenken, was ausserhalb ihres bisherigen Denkschemas auch noch möglich wäre – denn Lösungen liegen oft ausserhalb des bisher gedachten Rahmens von Möglichkeiten.
Ich sehe den eher trockenen, spröden Mathematiker heute noch, wie er wie ein Känguru lachend im Schnee herumhüpfte, weil er kapiert hatte, dass er sich viele einengende Grenzen selbst gesetzt hatte. Er realisierte, dass er sie überschreiten durfte und mit Offenheit und Frechmut kreative, auch etwas verrückte Lösungsansätze ausprobieren durfte.

Offenheit und Neugier sind jetzt besonders wichtig.

Diese Geschichte nehme ich mit in die Zeit der Pandemie. Wir halten uns an die Regeln und Vorgaben. Aber ich suche Lösungen ausserhalb des bisher “Normalen”, um Lebensqualität auch bei eingeschränkten Möglichkeiten sicherzustellen.

Wenn ich mich eingeengt fühle, frage ich mich: “Was wäre ausserhalb des bisher Gedachten möglich?”
Und dann braucht es noch etwas Frechmut, um Neues auszuprobieren.

Neben Offenheit sind Fantasie und Humor wichtige Faktoren für das Wohlbefinden. In Bellwald schaue ich aus dem Fenster und frage mich: “Wachsen auf Bäumen nicht nur Früchte, sondern auch Vögel?” Zuerst mutete diese Frage doof an – aber eigentlich wachsen Vögel in Nestern auf Bäumen. Wäre ich im Stress, würden nie solche Gedanken auftauchen. Immerhin musste ich schmunzeln über meine Gedankenkunstflüge.

Beispielsweise Geselligkeit: Gestern habe ich mit Anne und Guido, die am Ammersee leben, “gewondert” – und wir haben viel gelacht. Danach buken Anne und ich Knäckebrot und tranken gemeinsam ein Glas Prosecco – Abstand Zürich-München. Ich brauche den Kontakt mit Menschen, die mich aktivieren, mir Ideen vermitteln.

Wieder zuhause kaufte ich mir Frühlingsblumen.

Der Frühling kommt bestimmt. Es wird sich wieder öffnen und wir werden Möglichkeiten finden, die Grenzen des vermeintlich Möglichen auszuweiten, überschreiten, lustvoll überhüpfen, um auf neue Art die Verantwortung für unsere Gedanken, unsere Befindlichkeit zu übernehmen.

Blickwinkelwechsel bringt Freiheit.

Ute Lauterbach

Musik
Sinfonie Nr. 9 op. 95 “Aus der neuen Welt“, Antonin Dvorak

Beitrag Strategien gegen Unzufriedenheit

Unser Chalet kann man mieten.

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Von Toulouse nach Lautrec

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Zwei Schlösser in der Heimat von Toulouse-Lautrec

  1. Paul und Theres

    Liebe Regula

    Vielen Dank für die schönen Bilder deines wunderbaren Chalets und der einmaligen Natur. Glücklicherweise wurdest du wieder mal eingeschneit und konntest so länger bleiben! Wir sind überzeugt, in dieser Umgebung kann man noch die Seele baumeln lassen und mit sich und der Welt Frieden finden. Was braucht man mehr!

    Liebe Grüsse und weiterhin viele schöne Momente

    Paul und Theres

  2. Anne

    So schön, den Samstag mit dir zu verbringen. Selbst, wenn wir soweit voneinander entfernt sind!
    Und wir kommen ganz bestimmt bald mal zu dir. Ganz gleich, wo du dich gerade rumtreibst.

    Liebesgrüße vom Ammersee

  3. elfi

    Dein Ausdruck “Frechmut” gefällt mir, liebe Regula – und ich musste über den wie ein Känguru herumhüpfenden Mathematiker auch schmunzeln………….
    Schön, deine Gedanken-Anregungen.

  4. Achermann Marlies

    Ein wunderbarer Ort! Danke dass du uns dahin mit genommen hast.

    Gruss aus Bonstetten!

  5. Sandra

    So schön, dank deinen Kommentaren und vor allem deinen wundervollen Bildern auch diesen Winter ein wenig in Bellwald verweilen zu können. Wir sind seit Jahren jeweils eine Woche da – bis diesmal. Die Wohnung ist besetzt:(
    Ich freue mich auf alle deine wundersamen Erlebnisse, die mich z.T. in ganz neue Plätze unseres schönen Landes führen!
    Herzlichen Dank!

  6. Adrian Spiegel

    Mit deinem Blog haben wir in dieser Zeit des “Reisestopps” wieder die Möglichkeit in den Erinnerungen unseres damaligen Aufenthalts in deinem Chalet zu schwelgen.
    Herzlichen Dank für deine wunderschönen Bilder.

    Susanne und Adrian

  7. ritanna

    In diesem Blog fühle ich mich jetzt ganz mithinein mitgenommen. Ganz das was ich daheim in meinem kleinen Heim, Tag für Tag leben und erleben darf. Keine Minus Grade sind zu tief, als dass ich deswegen nicht draussen mein Mittagsmal verzehre in Skijacke und Wolldecke um mich gewickelt. Genauso wie es die Gäste in St.Moritz oder Davos es tun. Wird der Horizont durch den Bauboom auch kleiner; ein Stück Himmel bleibt. Der alte, alte Zwetschgenbaum präsentiert sich im Hochzeitsgewand aus weichem Schnee. Die kleinen Futtersilos im Lebhag fülle ich morgens in der Dunkelheit auf. Immer wenn ich rausschaue, “chresmets” in den Ästchen. Schon fast auswendig kenne ich den Stundenplan der verschiedenen Vögel. Ja, und so kommen die Gedanken zum Fliegen – Vergessenes taucht auf –
    Ein Segen ist für mich diese Zeit. Man hilft sich beim Schneeschaufeln, macht sich Platz auf dem engen Trotoire-Weglein. Es ist so schön Dein und mein Zuhause sein.

  8. Rita

    Schöne Bilder!

  9. Magdalena

    Es ist gut so, dass ich mein Chalet in Fiesch verkauft habe. Doch wenn ich deinen Artikel lese und deine wunderschönen Bilder aus Bellwald anschaue, kommt Heimweh auf.

    Wie oft war ich zu Fuss von Fiesch nach Bellwald gewandert, im Sommer und im Winter, im Frühling und im Herbst. In einem Winter bin ich dort oben auf dem Eis ausgerutscht und habe meinen Arm gebrochen. Im Sommer wanderte ich aufs Risihorn, im Winter mit Schneeschuhen hinauf bis zum Restaurant bei der Bergstation oben. Bin in Bellwald auch oft mit meinen Kurzskiern skifahren gegangen, weil ich mich dort besser fühlte als in der grossen Masse im Altetschgebiet.

    Regula, du hast mir schon ab und an vorgeschlagen, dich zu besuchen. Geschafft habe ich es noch nicht ganz bis zu dir nach oben. Ich bin erst noch dabei, die letzte “Belastung” unten im Tal “abzuwerfen”. Manchmal braucht es das eben, um mit neuem Elan in die Zukunft schauen zu können. Und deine Bilder und Artikel aus dem Wallis spornen mich auch immer wieder mal an, endlich vorwärts zu machen. Danke.

    • Regula Zellweger

      Liebe Magdalena
      Die Einladung gilt ewig und ein Tag:-) Danke für Deinen Kommentar.

  10. Christina Derksen

    Bekannte und unbekannte Bilder lachen mir entgegen. Dein Chalet bietet dich Vieles.

  11. Renate

    Interessant deine Worte und wunderschön deine Fotos! Ich habe selber einen Newsletter zum Thema Offenheit geschrieben Ende November und nur wenige Stunden später haben sich die Ereignisse in meinem Leben überschlagen – von Geburt zu Tod zu Abschied nehmen, nichts war mehr wie vorher, ja, so schnell kann es gehen!
    Ich spüre, dass sich vieles verändern darf in unserer unmittelbaren Zukunft, doch dafür dürfen wir offen und neugierig sein, genau, wie du es beschreibst! Wir dürfen lernen, neu zu denken, uns ein neues Weltbild anzueignen, wir dürfen feststellen, dass es keine Sicherheiten (mehr?) gibt, doch dass wir sicher in unser Leben eingebunden sind und dass wir wie ein Fluss geführt sind, wenn wir es zulassen und alles was ist, annehmen können!
    Herzlichen Dank für deine Inspirationen!

    • Regula Zellweger

      Es gibt Zeiten im Leben, da steht kein Stein mehr auf dem anderen. Im Rückblick sind dies Zeiten, in denen man nicht Flickwerke gemacht, sondern mit alten und neuen Steinen was wirklich Neues zu bauen begonnen hat.
      Für die Gestaltung Deiner ganz eigenen Zukunft wünsche ich Dir Frechmut und Lust am Ausprobieren – für die Zukunft unserer Welt viel Zuversicht.

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