Mit Familiennamen ist das so eine Sache. Normalsterbliche haben einen Namen: Müller, Meier oder Bünzli. Die Namen von Adeligen sind halbe Geschichtsbücher. So beispielsweise bei Henri Marie Raymond de Toulouse-Lautrec-Monfa, 1864 – 1901.
Wer kann schon eine solche Familiengeschichte nachweisen?
Die Grafen de Toulouse-Lautrec gehören zur Stammlinie der Familie de Lautrec.
Das heute kleine Lautrec hat eine grosse Geschichte vorzuweisen.
Die Gegend um das heutige Lautrec war bereits von Kelten und Römern besiedelt. Karl der Grosse, 748 – 814, legte den Grundstein zur Kirche Saint-Rémy. Um 940 wurde Lautrec offiziell gegründet.
Die Stammlinie der Toulouse-Lautrec führt sich auf einen Aton missus comitis et vicarius im Jahre 898 zurück. Sicard VI., Vicomte de Lautrec († 1158), war nach neuen Forschungen ein Sohn des Frotard III., seigneur et vicomte de Lautrec. Alexandre de Lautrec (1633–1699), Seigneur de Geynes, jüngerer Sohn des Bernard de Lautrec, Seigneur de Monfa, nahm jedoch den Namen de Toulouse-Lautrec an, da er behauptete, Sicard VI. de Lautrec sei ein Sohn von Balduin von Toulouse (1165–1214) aus der Linie Saint-Gilles der Grafen von Toulouse und dessen Frau Alix de Lautrec gewesen.
Die Grafen von Toulouse sind bis in die Zeit Karls des Grossen nachweisbar, der ihnen das Gebiet um Toulouse zur Verwaltung und Verteidigung überliess. Sie erlangten vor allem im Hochmittelalter durch ihre Rolle bei den Kreuzzügen eine gewisse Bedeutung, starben jedoch schon im Mittelalter aus.
Bereits ums Jahr 1000 wurde der Hügel Montlausain mit zwei Mauern mit jeweils acht Toren befestigt. Lautrec hatte durch die Jahrhunderte immer wieder unter Kriegswirren zu leiden, beispielsweise den grossen Kriegen des Ancien Régime und dem Albigenser Kreuzzug, bei dem der Vicomte abwechselnd auf der Seite der Kreuzritter oder der des Grafen von Toulouse stand.
Auch vom hundertjährigen Krieg und vor allem den Hugenottenkriegen wurde Lautrec heimgesucht. Im Gegensatz zu seinem grossen Nachbarn Castres war Lautrec eine katholische Hochburg und stets im Konflikt mit dem Nachbarort. Auch die Französische Revolution verschonte dieses Gebiet nicht.
Im 19. Jahrhundert lebten die Mitglieder des Adelsgeschlechts Toulouse-Lautrec in materiellem Wohlstand auf Gütern im Süden Frankreichs. Um einer Minderung des Familienbesitzes durch Erbteilung entgegenzuwirken, heiratete man häufig innerhalb der Verwandtschaft. Diese Verwandtenehen sind ein Grund für das Auftreten der Erbkrankheit von Henri de Toulouse-Lautrec.
An diesem Morgen startete ich in der Geburtsstadt von Toulouse-Lautrec in Albi.
Ich erreichte das kleine Dorf Lautrec, das ausser seinem Namen wenig mit dem Maler zu tun hat.
Lautrec liegt in Okzitanien im Departement Tarn und ist als eines der “Plus beaux villages de France”, schönsten Dörfer Frankreichs, klassifiziert.
Lautrec besteht aus engen Häuserreihen mit roten Ziegeldächern, die sich um den Hügel La Salette winden.
Deshalb steigt man ins Dorf hinauf.
Nein, keine Gruppentoiletten!
In der Nähe des befestigten Stadttores und den Überresten der Stadtmauern kann man im Viertel La Caussade unterirdische Silos entdecken. Sie sind für die Lagerung von Vorräten für Notzeiten bestimmt und wurden unter den Häusern in den Fels gegraben. Die Silos hatten das Volumen von rund zwei Kubikmetern und die Form einer grossen, unterirdischen Flachbodenflasche. Sie wurden mit Korn gefüllt und mit einem Deckel aus Ton und Stroh verschlossen. Rund 150 solche Silos sollen in der Stadt existieren, von denen jedoch viele noch unerforscht sind.
Ich erreichte den Treffpunkt mit der Tourismusverantwortlichen pünktlich. Und wartete…
Ich wanderte die Gasse auf und ab und sinnierte zu Rosen, deren Knospen und verblühenden Blüten am selben Zweig sind.
Eine alte Frau sprach mich an, fragte… und dann begann sie zu organisieren. Das halbe Dorf fand schliesslich heraus, dass die Dame vom Tourismus im Hauptort sei. Sie wurde angerufen und versprach, in einer Stunde zurück zu sein und mir Lautrec zu zeigen.
In dieser Stunde machte ich eine Entdeckung: Pastel!
Ich stolperte in den Laden von Françoise. Sie färbt mit viel Liebe, Leidenschaft und Können Textilien mit Naturfarben. Vor allem mit Färberwaid, auch Pastel oder Deutsche Indigo genannt. Diese zweijährige, gelb blühende Pflanze aus der Familie der Kreuzblütengewächse stammt aus Westasien und wurde bereits seit der Jungsteinzeit in Europa als Färberpflanze kultiviert.
Françoise nahm mich mit in ihre Werkstatt und zeigte mir den Färbprozess, wie Stoffe blau gefärbt werden. Dabei spielt auch Gärung eine Rolle. Und Geduld! Sie färbt mit einer natürlichen Methode, die nur noch selten angewandt wird. Der Aufwand lohnt sich, die Blautöne sind wunderschön.
Françoise führt alle ihre Färbungen von Hand in Bottichen mit Pastel und Indigo de Pastel durch, die wie im 16. bis 19. Jahrhundert mit Indigo aus den Tropen verstärkt wurden.
Jedes Stoffstück wird einzeln und mehrmals gebadet, je nach der gewünschten Intensität des Blaus.
Die Kultur und der Handel von Pastel hat im goldenen Dreieck, Toulouse, Albi, Carcassonne Tradition. Das Gold bezieht sich auf die Farbe seiner gelben Blumen und den Reichtum, den es den Händlern von Pastel brachte, von denen man sagte, sie seien reicher als Könige.
Im Mittelalter begann man, Pastel mit frischen Blättern zu verwenden. Es brauchte eine Menge Blätter, um lediglich eine blasse Farbe zu bekommen. Später erkannte man, dass die Fermentierung von Pastel die Konzentration von Pigmenten ermöglichte und man dadurch dunklere Blautöne erhielt.
Färberwaid war bis ins 16. Jahrhundert wichtig für das Färben von Leinen. Er wurde dann durch den echten Indigo aus dem tropischen Schmetterlingsblütler Indigofera tinctoria, der ursprünglich aus Indien stammte, aber hauptsächlich in den amerikanischen Kolonien angebaut wurde, verdrängt.
Mit der kommerziellen Herstellung synthetischen Indigos seit 1897 verschwand auch der natürliche Indigo vom Markt.
Bedeutung für die Region Toulouse: Wegen der Kontinentalsperre konnte Indigo aus den Tropen nicht mehr importiert werden. Napoleon begann daraufhin mit der Produktion von Indigo aus Pastel, und es wurden zwei Indigofabriken eröffnet, Albi und Toulouse. Nach der Aufhebung des Embargos wurden die Indigofabriken geschlossen und die Färbung mit Pastel, verstärkt mit Indigo aus den Tropen, wurde wieder aufgenommen.
Urkunden bezeugen, dass Lautrec ein Ort des Handels von Pastelkugeln war, im 16. Jahrhundert, insbesondere an einem Ort namens “La Pastelerie” direkt unterhalb der heutigen Mühle. Die faustgrossen Pastellkugeln, cocagnes, bestanden aus getrockneten, zerquetschten und gepressten Blättern der Färberwaid. Diese wurden als Basis der Farbgewinnung verkauft. Das Halbprodukt wurde weiterverarbeitet, mit Wasser und Urin vermischt zur Gärung gebracht.
Nachdem ich mich an den Blautönen dieses Dorfes sattgesehen und eine blaue Bluse gekauft hatte, kam die Tourismusfachfrau.
Zuerst führte sie mich zur alten Windmühle auf einer kleinen Anhöhe beim Dorf.
Hier müssen über Jahrhunderte Mehlsäcke geschleppt worden sein.
Aus dem Fenster der Mühle blickt man über das Dorf.
Die Windmühle La Salette aus dem Jahr 1688 wurde in den 90er Jahren von einem französischen Zimmermann restauriert.
Mit einem Besuch der Mühle bekommt man Informationen über die Funktionsweise der Mühlen in vergangenen Jahrhunderten.
Es ist eine der wenigen Windmühlen, die in Midi-Pyrénées noch Mehl herstellen.
Faszinierend ist die Mechanik dieser Mühle.
Danach besuchten wir die Kirche Saint-Rémy.
Erbaut im Jahr 1394, ist es eines der ältesten Gebäude in Lautrec und steht unter Denkmalschutz.
Die Kirche ist überraschend gross, über 40 Meter lang.
Sie hat Trompe-l’oeil-Malereien und einen prächtigen Hochaltar aus Caunes-Minervois-Marmor.
Gern hätte ich die Akustik der Kirche erfahren und den Klängen dieser Orgel gelauscht.
Der Ortskern stammt aus dem Spätmittelalter. Im Mittelalter hatte Lautrec bis zu 4500 Einwohner, heute sind es noch knapp 2000.
Hier entdeckt man auch eine historische Bäckerei, die noch immer in Betrieb ist.
Wie immer macht es Spass, auf Details zu achten.
Beispielsweise auf Spiegelungen in Schaufenstern.
Auf idyllische Ecken.
Auf Fenster und Türen.
Auf Portale.
Auf Dekorationen.
Und auch auf gelungene moderne Nutzung der alten Gebäude.
Es macht Spass, einen Ort mit allen Sinnen zu er-leben.
Ich verliess Lautrec, um zwei Schlösser in der Region zu entdecken – aber darüber mehr in einem weiteren Beitrag.
„Wer des Lebens Genüsse verschmäht,
hat des Lebens Deutung nicht erkannt.“
Henri de Toulouse-Lautrec
Musik
Neu entdeckt habe ich Filmmusik von Rachel Portman. Die britische Komponistin Rachel Mary Berkeley Portman, geb. 1960, konnte als erste Frau, die nicht Teil eines Komponisten-Teams war, den Oscar für die beste Filmmusik (Film: Emma) gewinnen. 2003 wurde ihre Oper Der kleine Prinz nach dem Buch von Antoine de Saint-Exupéry uraufgeführt. Toulouse ist die Stadt von Saint-Exupéry.
Emma
Benny & Joon
Marvins Room
Die Schöne und das Biest
Nicholas Nickelby
The Cider House Rules
Informationen
Tourismus Lautrec
Tourismus Tarn
Chocolat
Dank
Mein Dank geht an Caroline Ducasse und an Christian Riviere vom Comité Regional du tourisme Occitanie für die Organisation dieser Reise.
Hoteltipps
Alchimy Albi
Château de Mauriac
Château de Salettes
Mary
Wie immer die schönsten Fotos…macht Lust auf Sommer und schönes Wetter <3
Rita
Super schöne Bilder!
Da war ja die Wartezeit fast spannender als die eigentliche Führung!
Rita
Lis Rohner
Wunderschöne Impressionen, man kommt ins Träumen.
Danke dir Regula, dass du uns durch deine Bilder mit auf
diese Reise genommen hast.
Herzliche Grüsse. Lis