Bei Agnese im Wunderland

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Agnese Zgraggen ist weit in der Welt herumgekommen, ihre Wurzeln aber liegen tief im kleinen Tessiner Dorf Arcegno. Ihre weiblichen Vorfahren waren starke Frauen, die viele Kinder unter härtesten Bedingungen grossgezogen haben.

Agnese sieht Mutter, Grossmütter, Tanten und Urgrossmütter als Kraftquellen, um ihr Leben unabhängig und voller Mut mit kreativen Projekten zu gestalten.

Ich kam in Arcegno an, als die Abendsonne das Dorf vergoldete.

Eine Frau reinigte die Kirche und zündete für mich die Kirchenbeleuchtung an. Ihr freundliches Lächeln erwärmte die Seele. Ich sammle solche “Moments of Excellence”.

Kirchen sind manchmal wie Bilderbücher. Der Glanz in der Mitte kommt vom Lächeln der Frau in der Kirche. 🙂

Noch verwandelte die Sonne die Fenster in Spiegel, zwischen den Häusern hat der Schatten Oberhand.

Noch geniesst die Palme die Sonne, während die Wärme in den schattigen Innenhöfen in den dicken Mauern gespeichert bleibt.

Hortensien setzen Farbtupfer – kleine, dicke Farbwolken.

Ansonsten dominieren graue Steine das Dorfbild.

Es gibt viel zu entdecken.

Hier klappern Holz-Zoccoli wirklich auf dem Boden – nichts für High Heels.

Auf dem Dorfplatz war früher Markt, einmal pro Woche kam ein Fischer mit seinem Fang und auch ein Käsehändler verkaufte seine Ware.
Es gab einen kleinen Kolonialwarenladen, betrieben von drei Schwestern.
Später kam hier der Migros-Wagen. Das erinnert mich an Ferientage in Origlio. Meine Mutter hatte vor ihrer Heirat in der Linoleum Fabrik in Giubiasco als Sekretärin (4-sprachig mit Steno) gearbeitet. Durch ihre Kontakte zu ihren ehemaligen Arbeitskolleginnen kam ich als Kind zu Tessiner Ferien in Bellinzona und Origlio.

In Origlio kam täglich der Migros-Wagen. Zuhause war es uns verboten, in die Migros zu gehen (politisch links, wir selbständige Handwerkerfamilie). Meine Mutter kaufte dort genussvoll Gorgonzola im Migroswagen ein.

Im Dorfbrunnen entdeckten wir den Apéro. Er war wirklich für uns bestimmt.
Bei den “Amici del Ticino” hatten wir ein Abendessen der besonderen Art gebucht: “Bei Agnese im Wunderland”.

Und so sieht Agneses Wunderland aus. Das leicht zerfallene, seit 1974 unbewohnte Haus ihrer Nonna.

Hier liess sie uns mit ihren Erzählungen in die Vergangenheit entschweben.

Eine Heilige beobachtet das Geschehen von oben über das alte Geländer .

Hier wohnten kinderreiche Familien und vier bis fünf Kühe. Ziegen und Hühner hatten ihre Ställe ausserhalb. Für die Ziegen wurden für den Winter Blätter gesammelt und in Jutesäcken aufbewahrt. Die Schlafzimmer konnten nicht beheizt werden. Dafür gab es Bettflaschen, gefüllt mit heissem Wasser oder Bettpfannen, in die man Glut aus dem Feuer legte. Unbewohnt ist das Haus 46 Jahre, aber 1980 hatte man es so weit saniert, dass man einen Einsturz nicht mehr befürchten musste. 1980 bauten Agneses Eltern ein Haus – bereits mit Sonnenenergie ausgestattet.

Agnese beschreibt ihre Kindheit als voller Freiheit. Sie kletterte besonders gern auf Bäume.
Die Grossmutter hatte die “Leute auf dem Monte Verità” mit Gemüse beliefert. Das interessierte die kleine Agnese brennend. Monte Verità war in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ein bekannter Treffpunkt von Lebensreformern, Pazifisten, Künstlern, Schriftstellern sowie Anhängern unterschiedlicher alternativer Bewegungen.

Vor 60 Jahren gründete eine Kalifornierin einen Chor in Arcegno – es gibt ihn noch heute.

Man war weitgehend Selbstversorger: Gemüse aus dem Garten, Milchprodukte und Fleisch aus den Ställen. Salami machte man selbst. Morgens gab es jeweils frische Butter.

Die Grossmutter hatte neun Kinder, alleinerziehend. Aber sie war nie unzufrieden und bewältigte alle Herausforderungen mit Zuversicht – und wahrscheinlich mit Gottvertrauen. Dass dieses im Tessin seinen Platz hatte, zeigen die vielen Kirchen.

Agneses Familie war grossherzig, beispielsweise während des 2. Weltkrieges bauten polnische Internierte Schweizer Strassen – so auch im Tessin. Man lud diese Menschen nicht nur an Weihnachten ein, man informierte sich auch nach dem traditionellen Weihnachtsessen in Polen und kochte es für die “Gäste”.

Von Herzen Gastgeberin ist auch Agnese Zgraggen, 1966 in Locarno geboren.
In Mailand absolvierte sie eine Ausbildung zur Grafikdesignerin und besuchte Seminare zu japanischer Malerei.
Seit einigen Jahren ist sie “Forschungsköchin”.  2007 gründete sie die Officina del Gusto, einen personalisierten Catering-Service, spezialisiert auf künstlerische Events und Institutionen, beispielsweise in Zusammenarbeit mit Galerien oder Luganer Museen.
Zurzeit leitet sie auch Workshops zum Thema Food Design in Italien und der Schweiz.
Ihre Passion ist das Verbinden von Kunst und Nahrung. Sie legt grössten Wert auf frische, saisonale und regionale Bioprodukte und kennt ihre Lieferanten persönlich. Früchte und Tomaten lässt sie beispielsweise vor dem Verarbeiten an der direkten Sonne reifen.
Sie hat ein vielbeachtetes Kochbuch herausgegeben: “La Fame”, der Hunger.

Der Tisch reichte fast von der Gasse durch das Tor bis in den Innenhof, der von einer grossen Palme dominiert wird.

Der Tisch ist liebevoll gedeckt.

Corona musste sich in eine kleine Ecke zurückziehen.

Hier das kalte Vegi-Menü:

1. Gang: Minestra fredda

2. Gang: Weisse Polenta aromatisiert mit Rucola und mit Paste von getrockneten Tomaten. Polenta mit schwarzem Sesam und Zucchini-Tupfern. Tomaten gefüllt mit Tessiner Schnittzichorie.

Agnese sagt von sich, dass sie gern spielt, beispielsweise mit den Farben.
Sie weiss, dass man mit Blaukraut je nach Kochtemperatur sieben verschiedene Farben herstellen kann. Damit könne man hellblaues Risotto kreieren, behauptet sie lachend. Agnese lacht gern und hat dabei eine umwerfende Ausstrahlung.

Bei der körnigen Polenta erkennt man genau den Mais.

3. Gang: (lustiger Teller, meinte Agnese) Vegi-Tartar mit Tofu und Nüssen, Auberginenscheiben und “Frischkäse-Pralinen”.

Die Auberginen tun so, als wären sie eine Lasagne.
Agnese arbeitet gern mit frischen Kräutern und Sprossen.

4. Gang, Dessert: Weisser Brotkuchen mit Aprikosen und Amaretto.

Zum Schluss holte Agnese noch eine Flasche Noccino, den ihr Bruder hergestellt hat. Am 24. Juni grüne Baumnüsse ernten, in Alkohol einlegen und 40 Tage an der Sonne stehen lassen. Jede Familie hat ihr Geheimrezept, fügt beispielsweise Vanille oder Zimt bei.

Nichts wirkt überraschender
als ein ausgefallenes Essen.

Kalenderspruch

Informationen
Amici del Ticino
Agnese Zgraggen agnese.zgraggen@bluewin.ch verschiedene Projekte, beispielsweise das Essen im Haus ihrer Nonna oder an anderen Orten in der Natur: Il Ristorante segreto (Vergleich: mein Beitrag aus Schweden mit dem Essen mitten im Wald)
2. Webauftritt Agnese
Tessin Tourismus

Dank
Ich danke Jennifer Perrenoud! Sie gestaltet seit vielen Jahren mit sehr viel persönlichem Engagement das abwechslungsreiche und hervorragende Programm der “Amici del Ticino”.
Danke auch meinem Bruder Thomas, der mir in seinem Haus im Mendrisiotto Gastfreundschaft gewährt hat.

Musik
3 Sonatinen für Signora de Lucca, Niccolò Paganin
Niccolò Paganini Tarantella für Violine und Orchester a-Moll Bearbeitung für Violine und Gitarre
Complete Ghiribizzi for Solo Guitar, Niccolò Paganin

Buchtipp

Der Hunger
Kochbuch von Agnese Zgraggen

 

 

Ticino ti cucino
Eine genussvolle kulinarische Reise durch die italienischsprachige Schweiz. Auf der Suche nach dem Ursprünglichen, Echten und Unverfälschten nehmen uns die Autoren mit auf eine Entdeckungsreise durch das Tessin. Sie spüren vergessene Geschichten auf, treffen Menschen, die mit Liebe und Leidenschaft ihre Salami, Formaggini oder ihren Merlot produzieren, kosten authentische Gerichte aus Großmutters Zeiten und die Kreationen eines jungen Tessiner Spitzenkochs. Elf wundersame Kapitel erschliessen uns, von eindrücklichen Fotos begleitet, versteckte und unbekannte Seiten des Tessins. Vom Winter und vom Dinkel ist die Rede, vom Leben auf der entlegenen Alpe Cedullo, vom Sommer auf dem See und im schattigen Grotto, von der «Mazza» und von Nonna Lina. Mit 50 authentischen Rezepten, die nach «Nostrano» schmecken, nach dem Ursprünglichen, nach Sehnsucht und den guten alten Zeiten.

 

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  1. Katharina Heyer

    Mmm…da kriegt man ja direkt Hunger! Tolle Fotos!
    LG aus dem 9-tägigen Levante.

    • Jennifer Perrenoud

      grAzie carissima für deinen wunderschönen Blog Eintrag zu unserem Amici del Ticino Anlass:
      “bei Agnese in Wunderland”
      Es hat mich sehr gefreut, dass du ein Teil dieser ganz speziellen Tafelrunde warst. ♡

      A presto & cari saluti
      Jennifer

  2. Susi

    Dein Bericht und die Fotos aus Arcegno lassen mich augenblicklich wieder Kind sein. Manches Sommerlager habe ich dort verbringen dürfen mit Baden in der Melezza, Singen am offenen Feuer und dem verhassten Morgenturnen in aller Früh. Heimweh, Liebeskummer, Freundinnenzwist : Alles inmitten mit Farn durchwirkten Kastanienwäldern und mächtigen Felsen und geborgen in einem einzigen Zauberwort: ARCEGNO!

  3. Paul und Theres

    Herzlichen Dank für diesen spannenden Bericht und die wunderbaren Fotos aus Arcegno, das wir von früheren Besuchen kennen. Ihr seid ja richtig verwöhnt worden von Agnese, alles schön angerichtet und sicher sehr fein. Man bekommt richtig Lust und so haben wir soeben ihr Buch “Der Hunger” bestellt und freuen uns bereits auf das erste, selber gekochte Gericht. Wer weiss, vielleicht bis bald im Ticino!

  4. ritanna

    Damit ich vor lauter Neid und Eifersucht nicht verplatze – auf das nostalgische Tessin und die feinen Köstlichkeiten – habe ich mir in der Zwischenzeit einen herrlich feinen Zwetschen-Dessert von herabgefallenen Früchten zubereitet.
    Mit Ainis und Zimtrinde verfeinert, dazu mir einen gut schmeckenden Kaffee serviert. So gibt es für mich bildliche Auswirkungen in so einer Intensität, es ist fast nicht zum Aushalten. Jetzt kann ich die Eindrück etwas gefasst verarbeiten.

  5. Jacqueline Real Butler

    Liebe Regula – was für ein faszinierender blog, vielen Dank! Ich bekäme furchtbar Heimweh, wenn ich nicht schon hier wohnen würde!!

  6. Cordula Voegtle

    Liebe Regula
    Wir fahren am Montag für zwei Wochen ins Tessin und nach dem Lesen deines Beitrags kommt besondere Vorfreude auf! Ein Ausflug nach Arcegno steht nun auf dem Programm. Vielleicht lässt sich das sogar mit einem feinen Essen vor Ort verbinden?! Ich freue mich!
    Vielen Dank für den Tipp und ganz liebe Grüsse Cordula

    • Regula Zellweger

      Liebe Cordula
      Das Essen im alten Haus war ein einmaliger Anlass. Ich war in den paar Tagen im Tessin vor allem Kunsthandwerkern nachgegangen. Der Blogbeitrag kommt wahrscheinlich zu spät für Euch. Ich kann Euch Tipps geben, wenn Ihr beispielsweise mal einen Tag drechslern (Matthias Bachofen) oder mit Ton arbeiten möchtet. https://www.aticrea.ch/
      Mein Lieblingstal ist das Muggiotal. Das gibt es ein super Museum – das man besucht – und danach die Sehenswürdigkeiten erwandert.
      Ich wünsche Euch schöne Ferien!

  7. Elfi

    Liebe Regula
    ich habe Freude an deinen Moments of Excellence, die hier ständig aufblitzen, und ich will mir diese Formulierung merken!

  8. Willy Titti Nico

    Cara Agnese, complimenti per le bellissime foto di Arcegno e dei tuoi piatti prelibati.

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