Pausen machen Rhythmen

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15. Mai 2020

Ideen für die Cocooning-Zeit

Wir leben unser Leben in Rhythmen.
Unser Körper funktioniert in Rhythmen. Die Natur hält sich an Rhythmen. Man freut sich auf die Jahreszeiten, die immer wieder kommen, auf bestimmt Blumen, die in einer bestimmten Jahreszeit blühen – und sonst Blüh-Pause machen.

Wie beispielsweise meine Glyzinie im Garten.

Alles hat seine Zeit. Und seine Pausen. Was wäre beispielsweise Musik ohne Pausen?

Wer immer rennt, begegnet niemandem, nicht einmal sich selbst. Dabei lernt man in der Schule des Lebens am meisten in den Pausen. Pausen zum Denken, nicht Pausen vom Denken.

Pausen im Ameisenrennen des Alltags, der so genannten Normalität, schaffen Raum, dass Neues entstehen und Altes bewusst über Bord geworfen werden kann. Pausen sind lebensnotwenig.

Viele Kinder antworten auf die Frage nach dem Lieblingsfach in der Schule mit «Pausen». Weil sie dann ihre Zeit selbstbestimmt gestalten können. Weil Zeit für das Miteinander ist, statt für fremdbestimmte Leistung. Weil Druck abgelassen werden kann und die Voraussetzung für neue Konzentration aufgebaut, der Energiehaushalt ins Gleichgewicht gebracht wird. Die einen verausgaben sich körperlich, andere tauschen sich aus, holen sich emotionale Zuwendung bei Freunden, andere suchen Ruhe.

Denn Pause machen heisst nicht per se nichts zu tun. Eine Pause ist lediglich die zeitlich begrenzte Unterbrechung eines länger dauernden Vorgangs. Ovid formulierte bereits zu Beginn unserer Zeitrechnung: «Was keine Pause kennt, ist nicht dauerhaft.»

Nichts fliesst in der individuellen Wahrnehmung immer gleich. Nicht einmal die Zeit. Ideal ist ein Rhythmus, der Pausen beinhaltet. Wir leben unser Leben in Rhythmen. Nicht im Takt. Der Körper macht es vor. Er ist ein System von Rhythmen: Herzschlag, Atmung, Schlafen und Wachen. Wie die Perlentaucher beim Atmen können wir einzelne Phasen mit viel Anstrengung dehnen – aber nicht ewig. Der Körper fordert den Atem genauso wie die Erholung und den Schlaf ein. Die Natur macht es vor: Jahreszeiten, Vogelzüge, Ebbe und Flut, Tag und Nacht. Würde beispielsweise die Sonne immer strahlen, gäbe es kein Leben auf unserem Planeten.

Im Moment hat man das Gefühl, dass die Natur eine Pause in Form der Krise eingefordert hat. Für einzelne eine Unterbrechung, die mehr Ruhe ins individuelle Leben brachte – vielleicht zu viel Ruhe. Für andere bedeutete diese Unterbrechung des dahinfliessenden Alltags mehr Druck, Stress, vielleicht zu viel Stress. Diese Pause vom Normalzustand, welche die aktuelle Krise erzwungen hat, verändert die Normalität. Man kann so wenig zur Normalität zurückkehren, wie man zwei Mal in denselben Fluss steigen kann. Man kann dies am selben Ort tun, aber das Wasser ist anders.

Gute Wirkung erzielen Pausen, wenn man sie anders gestaltet als die Zeit vorher und nachher. Wer bei der Arbeit ständig sitzt, soll sich in den Pausen bewegen. Wer schweigt, sollte in den Pausen das Gespräch suchen – und umgekehrt.

Neurowissenschaftler haben herausgefunden, dass das Hirn nicht abschaltet, wenn man sich entspannt. Lediglich jene Gehirnnetzwerke fahren herunter, die für Konzentration, Aufmerksamkeit zuständig sind. Stattdessen wird das Ruhezustandsnetzwerk aktiv. Dieses Netzwerk eignet sich hervorragend, um sich die Zukunft vorzustellen und neue Verbindungen zu knüpfen. Der Glaube, dass Pausen «nichts tun» bedeutet, ist also falsch und vielleicht eine Folge davon, dass man ohne Pausen zu aktiv ist.

Die aktuelle Pause in der «Immer mehr-immer grösser-immer schneller-Kultur» mag kurzfristig nicht angenehm sein, kann aber langfristig heilsam sein. Weil nachgedacht wird.

Pausen können Raum schaffen für eine Standortbestimmung. Und für die Beschäftigung mit der Zukunft – etwas weiter als zur eigenen Nasenspitze. Wer die eigene Nasenspitze fokussiert schielt!
Erst Pausen im Rennen im Hamsterrad machen überhaupt bewusst, dass man im Hamsterrad rennt – und dies Normalzustand nennt. Und zu realisieren, dass dieses Rennen nicht weiterbringt, das es kaum Sinn macht. Und zu entscheiden, wie man das Leben nach der Pause neugestaltet.

Eine Pause ist eine zeitlich begrenzte Unterbrechung eines länger dauernden Vorgangs. Wenn eine Pause zu einem Zustand wird, wird man eine Pause von der Pause brauchen. Pausen sind Momente, die Ausgleich schaffen. Sie sind ein Teil eines Rhythmus, der ohne Pausen keiner wäre.

Vorstellbar ist, dass Menschen am Ende ihres Lebens bereuen, nicht mehr Pausen gemacht zu haben. Dass sie im Ameisenrennen zu selten einen Boxenstopp eingelegt haben, um sich klar zu werden, was sie für sich, für ihre Familie, für ihr Umfeld einerseits gewünscht haben und was unabdingbar notwendig war – und was sie zur Erfüllung dieser Pflichten und Wünsche selbst beitragen haben. Man schlittert durchs Leben und weiss nicht, wann man bewusst entschieden hat, so leben zu wollen, wie man es tut.

Cocooning-Zeit, eine Zeit des Rückzugs, in der Persönlichkeitsentwicklung geschehen kann und darf, hat wahrscheinlich eine positive Auswirkung auf die Lebensgestaltung nach der Cocooning-Zeit, nach der Pause vom Normalzustand, nach der Krise.

In der Medizin ist eine Krise ein kritischer Wendpunkt bei einem Krankheitsverlauf. Auf die Gesellschaft oder die Menschheit bezogen würde man Krise als schwierige Lage, Situation oder Zeit definieren, die den Höhe- und Wendepunkt einer gefährlichen Entwicklung darstellt.

In unserer westlichen Gesellschaft war das Bedürfnis nach Pausen oft negativ konnotiert:  Wer nicht ständig beruflich überlastet ist, hat keine wichtige Position. Stress ist chic. Man ist stolz, Stress zu haben, denn man ist unersetzlich – oder hat wenigstens dieses Gefühl.

Dabei weiss man genau, dass ein kreativer Kopf Pausen braucht, um Ideen zu vertiefen, dass bereits eine kurze Pause die Wachsamkeit und Leistungsfähigkeit erhöht und dass, wer Pausen sinnvoll nutzt, mehr vom Leben hat und etwas für seine psychische und physische Gesundheit tut.

Die Menschen können ruhig einmal etwas Pause machen, die Welt kommt auch ohne sie zurecht – oder erst recht zurecht.

Kleine Pause,
muss mich bücken,
für zu Hause
Blumen pflücken.

Frantz Wittkamp

Musik
Paganini – Complete Ghiribizzi for Solo Guitar
Ghiribizzi heisst Fantastereien, schönes Wort!

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Spargelkissen im Salatbett

  1. Hildegard

    Liebe Regula

    Wie gerne würde ich einmal durch deinen traumhaften Garten lustwandeln!

    Frohe Sonntagsgrüsse vom Bodensee
    Hildegard

    • Regula Zellweger

      Einfach anrufen und kommen. Ist aber ein kleiner Garten. Freue mich auf Euch!

  2. Brigitte

    Liebe Regula

    Darf ich mich da anschliessen?

    Herzliche Grüsse aus Zürich
    Brigitte

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