Pétanque und Pastis in Marseille

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In Südfrankreich sieht man alte Männer draussen sitzen. Was tun sie eigentlich? Schwatzen! Wahrscheinlich mehr als die Frauen, die zuhause kochen, putzen und die Hemden bügeln.

Was tun sie noch? Pétanque spielen und Pastis trinken.

Elisabeth und ich besuchten in Marseille das traditionelle Familienunternehmen “La Boule Bleue”. Hervé Rofritsch führt seit 1994 in vierter Generation die kleine Fabrik am Rand von Marseille, in der Nähe des “Château de la Buzine”, das Marcel Pagnol als Vorbild für “Das Schloss meiner Mutter” diente.

Es war gar nicht so einfach, die Fabrik zu finden. Im Vorzimmer – oder Büro – sitzen drei freundliche Damen, dahinter ist gleich die Fabrik. Es duftet wie in einer Metallwerkstatt und nach Farbe.

Hervé Rofritsch begrüsste uns herzlich. “Rofritsch” klingt nicht sehr französisch, ist es aber. Ururgrossvater Félix Rofritsch weigerte sich einst, in seine Heimat, das Elsass zurückzukehren, da es seit 1871 in den Händen der Deutschen war.

Er blieb in der weltoffenen Hafenstadt Marseille, eröffnete einen Laden im Zentrum und verkaufte typische “Artikel aus Paris”. Darunter auch Boule-Kugeln.

Pétanque wird den Boule-Spielen zugeordnet. Wie beispielsweise das italienische Boccia-Spiel und das britische Bowls.

Die Entstehungsgeschichte des Pétanque-Spiels ist eine schöne Geschichte: In der kleinen Hafenstadt La Ciotat war Jules Le Noir als guter Boule-Spieler bekannt. Sein fortschreitendes Rheuma machte es ihm zunehmend schwerer, die beim klassischen provenzalischen Boule, dem Boule Lyonnaise geforderten drei beschwingten Anlaufschritte vor dem Abwurf der Kugel zu machen. Sein Freund Ernest Pitiot erfand daraufhin ein Spiel, das auf kürzere Entfernung und ohne Anlauf gespielt wird. “Geschlossene Füsse” heisst im provenzalischen Südfranzösisch “ped tanco”.

Pétanque ist also ein Spiel, das von Menschen jeden Alters gespielt werden kann. Auch von solchen, die körperlich oder geistig beeinträchtigt sind. Die Regeln sind einfach. Es geht nicht um Kraft, sondern um Geschicklichkeit.

Offizielle-Petanque-Spielregeln

Félix Rofritsch stellte einen Gegenstand her, der hundert Jahre später unabdingbar zur Kultur von Marseille gehören sollte: Boulekugeln.

Er beschlug Holzkugeln dicht mit Nägeln, spiralförmig, quasi vom Nordpol zum Südpol der Kugel. Zwei Kugeln schaffte er pro Tag.

Heute steht mit Hervé Rofritsch die vierte Generation an der Spitze des Unternehmens, dem er 1994 beigetreten ist. Wie sein Vater Maurice steht für ihn die handwerkliche Qualität im Zentrum.

La Boule Bleu-Kugeln werden ausschliesslich in Marseille in seiner Fabrik hergestellt Fabrik. Sie sind quasi die Rolls Royce unter den Boule Kugeln.
Hervé Rofritsch setzt auf Tradition und Qualität und fertigt massgeschneiderte Boules her, mit denen weltweit zum Spass und in Wettkämpfen gespielt wird.

Den Namen “La Boule Bleu” haben die Stahlkugeln, weil sie nach dem Aufenthalt im Hochofen bläulich schimmern.
5 Jahre Garantie gibt Hervé Rofritsch.
Jährlich werden 45’000 Kugeln produziert. Damit deckt La Boule Bleu 10 Prozent des Marktes ab.

Die La Boule Bleue Kugeln dürfen das Label “EPV” tragen. Entreprise du Patrimoine Vivant.

Als wir in die kleine Fabrikationshalle eintraten, hiess es gleich: “Allez, allez!” Im Brennofen wurden gerade die Kugeln gehärtet.

Es war Donnertag, was relevant ist, denn die Kugeln werden von Montag bis Donnerstag in täglichen Produktionsschritten hergestellt. Wir erlebten also das Ende der Produktion. Am Freitag werden dann administrative Arbeiten und der Versand erledigt. Die meisten Kugeln werden über Internet bestellt und gehen in die ganze Welt.

Ein Arbeiter war gerade dabei, fertig geformte, beschriftete und polierte Kugeln in den Hochofen zu werfen.

Das Härten ist das relevante Geheimnis der La Boule Bleue. Die Kugeln werden 30 bis 35 Minuten in einem speziellen Ofen erhitzt: 850 Grad für Kohlenstoffstahlkugeln, 960 Grad für Edelstahlkugeln.
Es gibt zwei Sorten Stahl, die verwendet werden: Kohlenstoffstahl und Edelstahl, der nicht rosten kann.

Der Arbeiter nahm die glühenden Kugeln mit einer langstieligen Spezialschaufel aus dem Ofen und liess sie in ein kaltes Ölbad rollen.

Nun aber von Beginn an: Hervé Rofritsch lässt sich halbe Stahlkugeln liefern.

Diese werden vor Ort zusammengesetzt.

Es gibt unterschiedlichste “Grundmodelle”.
Sie werden individuell auf das gewünschte Gewicht geschliffen.

Nach Bedarf werden Rillen eingraviert. Sie verlangsamen das Rollen.

Jede Kugel bekommt die Initialen oder den ganzen Namen des zukünftigen Besitzers eingestanzt.

Diese Kugel bekommt Mathieu Philipp.

Nicht fehlen darf auch der Firmenstempel.

Wir konnten miterleben, wie Edelstahlkugeln zum zweiten Mal in den Hochofen kamen. Damit werden die Kugeln wieder etwas weicher gemacht, halbharte, halbweiche und superweiche Modelle. Dazu werden sie auf Temperaturen von 260 bis 450 Grad erhitzt. Dieser neue Erwärmungsvorgang gibt ihnen eine gewisse Flexibilität, die den Rückprall beim Aufprall auf den Boden oder den Rückstoss beim Schiessen auf einen im Spiel befindlichen Ball einschränken wird.

Die Kugeln werden nun noch glänzend poliert. Während Hervé Rofritsch voller Engagement und Begeisterung erzählt und alle Vorgänge praktisch demonstriert, füllt er seinen einzigartigen Aschenbecher neben dem Schild “Fumer interdit”.

Ganz schnell werden wir in die Geschichte der Boulespiele eingeführt, vom rollenden Stein der Antike, der mittelalterliche Holzkugel und der genagelte Holzkugel über die Kupfer- und die Bronzekugel bis zur heutigen, individuell personalisierten Präzisionsform aus Stahl.

Was wir nicht mehr mitbekommen, ist das finale Behandeln der Oberflächen mit Farbe oder Lack und den Versand. Die Karbonstahlkugeln bekommen eine Lackschicht gegen das Rosten.

Ich bekam eine Kugel mit einem “R” für Regula und einer “3” für meinen Geburtstag.

Und eine Hülle und ein Schweinchen.

Das Schweinchen ist die Zielkugel und es ist in allen Farben zu haben, wie auch die Hüllen.

Wir machten uns nun auf, zurück zum Alten Hafen von Marseille.

Von da aus suchten wir im ältesten Viertel Marseilles, dem Panier-Quartier, nach “La Maison de la Boule”.

Hier geht es in kleinen Gassen den Hügel hoch und es gibt viele kleine Cafés und Läden mit typischen Artikeln von Marseille: Seife, Santons, Olivenöl, Gebäck…

Das Maison de la Boule leuchtet blau aus den grauen Fassaden der Altstadthäuser.

Hier kann man sich informieren, Probe-Spielen und alles rund ums Boulespiel kaufen.

Von der Edelkugel bis zum bunten Schweinchen.

Alte Fotos und Pokale erzählen von Siegen in vergangenen Zeiten.

Im Laden entdeckten wir eine Geschenkpackung.

Option Coffret Pastis

Bild: La Boule Bleu

Eine Holzkiste mit Pastis Bleu Janot, drei Boulekugeln, drei Schweinchen und einer Hülle – für 45 Euro. Und damit war auch unser nächstes Ziel definiert.

Am Alten Hafen, zu Füssen des Quartiers Panier, findet man leicht “La Maison du Pastis”. Wenn man Glück hat, ist der Gérant Frédéric Bernard vor Ort. Er weiss alles über Pastis und er sieht seinen Laden weniger als ein kleines Geschäft, wo man Pastis kaufen kann, sondern mehr als eine Plattform, auf der sich kreative Produzenten präsentieren können. Mehr als 75 verschiedene Pastis und Absinthes warten hier auf interessierte Kunden, die im Pastis nicht nur ein Getränk sehen, sondern einen Teil der französischen Lebensart, Lebenskunst.

Bereits im alten Babylon kannte man die Heilkraft der Anispflanze. Gegen Pest und Cholera wurde ein Heilmittel aus Anis, Süssholz und Zimt eingesetzt.

Die Pastis-Geschichte beginnt mit dem Absinth – in der Schweiz.

Am Anfang stand der Absinth, der im Neuenburger Jura von einer alten Frau erfunden worden war. Schnell schwappte der Absinth über die Grenze und Pontarlier wurde ein wichtiger Produktionsort. (Blogbeitrag: Auf den Spuren des Absinth)

In der Mitte des vorletzten Jahrhunderts kam der Absinth, die grüne Fee, in Verruf und wurde schliesslich verboten.

In der Folge wurden anisierte Alkoholgetränke ohne die Wermut-Pflanze entwickelt. 1922 wurde in Frankreich der maximale Alkoholgehalt auf 40 Prozent, später auf 45 Prozent heraufgesetzt.


1932 entwickelte der junge Paul Ricard einen neuen Typus, dem er Lakritze beigab.
Mit “Lakritze” wird der Wurzelextrakt des Echten Süssholzes bezeichnet.

Dieser Ricard wurde mit dem Slogan “Le vrai Pastis de Marseille” vertrieben. Damit war der Begriff Pastis für diese Art Getränke geboren. Pastis MUSS Lakritze und Anis enthalten.

Den grössten Unterschied zwischen Absinthe und Pastis besteht im Geschmack. Während Absinthe durch den Wermuth bitter wirkt, ist der Pastis durch blumigere Noten gekennzeichnet.

Absinth ist nicht gezuckert, Pastis schon. Im Gegensatz zu Absinth wird Pastis nicht durch Destillation, sondern durch Mazeration, also durch Aufweichen der Zutaten in Flüssigkeit, hergestellt. Absinth weist mit 53 – 89 Prozent einen deutlich höheren Alkoholgehalt als Pastis mit weniger als 45 Prozent auf.

Pastis wird vermischt mit eiskaltem Wasser genossen, vorzugsweise stilles Mineralwasser.

La Maison du Pastis bietet vier verschiedene Produkte an, die mit natürlichen Aromastoffen und nicht mit chemischen Produkten hergestellt sind.

Es ist interessant, diese vier unterschiedlichen Pastis zu degustieren.

Im Laden von Frédéric Bernard herrschte Hochbetrieb und es war inmitten von Absinth-Fans aus der ganzen Welt fast unmöglich, stimmungsvolle Bilder zu schiessen – denn ich fotografiere sehr selten Menschen, weil ich deren Rechte respektiere.

Zuhause legten wir unsere Schätze auf dem Küchentisch aus.

In den nächsten Tagen waren wir sensibilisiert auf Pétanque und Pastis.
An einer Hauswand entdecken wir eine Szene aus dem Film Marius, der nach einem Roman von Marcel Pagnol 1931 gedreht wurde. In der Hauptrolle: der in Toulon geborene Schauspieler Raimu (1883-1946).

Auf der Place Raimu in Toulon sitzen die beiden Hauptfiguren César und Panisse beim Kartenspiel am Tisch. Wie sehen es sofort, sie trinken Pastis!

In Besse sur Issole entdecken wir bei Regenschauern einen Platz, wo nicht Wasserball, sondern üblicherweise Pétanque gespielt wird.

So ist das mit dem Reisen. Man wird für Themen, mit denen man sich zuhause nie befassen würde, sensibilisiert. Dadurch wird der Horizont erweitert – und die Wahrnehmung vielfältiger und bunter.

Nur Reisen ist Leben, wie umgekehrt Leben Reisen ist.

Jean Paul, 1763 – 1825

Informationen
La Boule Bleu
La Maison de la Boule
La Maison du Pastis
Tourismus Region Sud, Provence, Alpes, Côte d’Azur (Marseille)
Tourismus Var (Toulon)
Tourismus Frankreich, Atout France

Dank
Mein Dank für diesen Tag in Marseille geht an Susanne Zurn-Seiller von Provence – Alpes -Côte d’Azur-Tourisme. Und an Elisabeth, mit der ich immer wieder gern durch Frankreich reise.

Musik
Im Château de la Buzine, gleich bei der Boule-Fabrik, wird bis Oktober 2019 eine Ausstellung zu Charles Aznavour gezeigt, deshalb Musik von und mit ihm.

Film
Marius von 1931

Tipp
Marseille ist bekannt für seine Seifenherstellung. Die Seifenfabrik Marius Fabre, wo auch die bekannte schwarze Seife hergestellt wird, ist von Marseille aus mit dem Auto in 3/4 Stunden erreichbar und kann besucht werden.

Reiseführer Marseille

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  1. ritanna

    Ganz interessant ist die Entstehung dieser glänzend glatten Kugeln.

    Es ist wunderbar dieses Handwerk genauso das des Absinth und Pastis.
    Die bemalten Wandteller zeigen das gemütliche Zusammensein.
    Ist doch schön, dass viele Menschen davon profitieren und leben können.

  2. Elisabeth

    Neben dir regula wird man immer neugierig mit einer Riesenmenge Spass! Danke für deine Arbeit!

  3. Ursula

    Wunderbar geschrieben. Ich sehe die Szenen bildlich vor mir und kann die ganz spezielle Atmosphäre nachempfinden. Natürlich auch dank der tollen Fotos.

  4. Susanne Zürn-Seiller

    Herzlichen Dank für die interessante und ausführliche Reportage. Es gibt noch viel zu Entdecken in der Region Sud Provence-Alpes-Côte d’Azur und ich freue mich schon auf ein nächstes Treffen.

  5. Ursula Schmid

    Liebe Regula, bei deinen Berichten hat man immer das Gefühl mittendrin und dabei zu sein. 😎 Herzliche Grüsse Ursula

  6. Rita

    Interessanter Bericht!

  7. Patrick

    Ein wirklich schöner Artikel, der einem sofort das besondere Lebensgefühl Südfrankreichs näher bringt. Seit kurzem bin ich übrigens auf den Geschmack von Pastis gekommen. Einfach herrlich, wenn man dazu bei Sonnen auf der Terrasse entspannen kann. Als passionierter Petanque-Spieler rate ich übrigens dazu, Edelstahlkugeln zu benutzten, da Kohlenstoffstahl doch sehr anfällig für Rost ist. Dieser bildet sich auf Petanque-Kugeln durch Untergrundfeuchte oder Handschweiß leider enorm schnell.

  8. Nicole

    Liebe Regula,

    Dein Bericht versetzt mich zurück in meine Kindheit, wo wir in Südfrankreich bis spät abends im Garten verweilt sind,
    gemütlich miteinander geplaudert, gegessen und Pétanque gespielt haben. Spannend finde ich auch die Wortherkunft und schon habe ich wieder was Neues gelernt.

    Hab eine schöne Restwoche.

    Liebe Grüsse
    Nicole

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