Kleinwalsertal zwischen Tradition und Innovation

Die Walser wanderten aus dem Goms in verschiedene Bergtäler der Alpen, beispielsweise nach Graubünden, ins Aostatal – oder eben ins Kleinwalsertal. Wirtschaftsflüchtlinge des Mittelalters.

Wie merkt man heute, dass in einem Tal damals Walser gesiedelt hatten. Ihre Sprache und der Baustil der Häuser verrät sie.

Das Kleinwalsertal hat nur einen Zugang, der zugleich Ausgang sein muss, ausser man ist alpin gut zu Fuss. Es ist also eine verkehrstechnische Sackgasse.

Noch einzigartiger: Das 12 Kilometer lange Kleinwalsertal liegt in Österreich, in den Allgäuer Alpen, und ist mit Fahrzeugen aber nur aus Deutschland, aus der Gemeinde Oberstdorf in Bayern erreichbar. Es gehört zu Vorarlberg, liegt im Gemeindegebiet von Mittelberg im Bezirk Bregenz.

Sind die Kleinwalsertaler nun im Herzen Walser, Österreicher oder gar Deutsche. Schwierig, sich da eine Identität zu entwickeln!

Die Kleinwalsertaler fühlen sich als freiheitsliebende Walser, die bereits als “Kolonialisten” von unwegsamen Tälern schon immer eigene Rechte beanspruchten. Als Gegenleitung handelten sich die Walser verschiedene Rechte und Freiheiten ein, die damals nicht selbstverständlich waren: die volle persönliche Freiheit, das Recht zur Bildung eigener Gerichtsgemeinden und das Recht der freien Erbleihe, was heisst, dass beim Tod des Siedlers das Gut auf seine Erben überging, die einen unveränderbaren Zins dafür bezahlten.

Seit 1891 ist das Kleinwalsertal Zollausschlussgebiet, also deutsches Wirtschaftsgebiet. Die Walser Bevölkerung kann somit zollfrei mit den benachbarten bayerischen Regionen handeln, was den Warenaustausch erleichtert. Zollfreier Handel wäre sonst nur zu Fuss über Berge und Pässe möglich. Seite der EU-Zugehörigkeit beider Länder spielt dies aber keine Rolle mehr.

Anders aber verhält es sich mit der Überführung von Verhafteten. Noch heute darf die Polizei im Kleinwalsertal festgenommene deutsche Staatsangehörige nicht über Deutschland nach Vorarlberg zum Gericht bringen. Sie werden mit dem Polizeihubschrauber ausgeflogen. Andere Nationalitäten können hingegen mit dem Streifenwagen auf dem Landweg über Deutschland befördert werden.

In der Schweiz kennt man das Bündner Valsertal. „Ds Valser Wasser – vo Berga gmacht“. Den Werbeklassiker „S’isch guat ds Valserwasser» kann jedes Kind zitieren und man geht auch gern nach Vals ins Thermalbad. Bevor aber im Valsertal Walser lebten, gab es sie anderswo, im obersten Rhonetal, im Goms im Wallis.

Mein Chalet im Goms hat Blockbauweise wie viele Walserhäuser – hier haben im Mittelalter wahrscheinlich Walser gelebt. Nachgewiesen ist, dass im 14. Jahrhundert Bellwald von Bauern bewohnt wurde, die dem Bischof zinspflichtig waren.

Die Walser sind also ursprünglich eine alemannische Volksgruppe aus dem Wallis. Mit der Auswanderung wurden aus diesen Wallisern Walser. Vom Goms aus drangen sie im 13. und 14. Jahrhundert in Teile von Graubünden, des Piemonts, des Aostatals, Liechtensteins, Tirols und eben des Vorarlbergs vor. Heute würde man sagen: „Wirtschaftsflüchtlinge“. Aber damals gab es im ganzen Alpenbogen von Monaco bis Slowenien noch genügend Platz zum Siedeln.

Ist man im Kleinwalsertal zu Gast, erkennt man Schritt auf Tritt, dass hier Walser zuhause sind. Ihre Identität heisst: „Wir sind Walser“. Stolz, hart im Nehmen und Geben, aber mit einem weichen Herzen.

Chronist Stefan Heim ist Spezialist für Kleinwalsertaler Geschichte und Kultur. Auf seinen Dorfführungen lernt man beispielsweise viel über die typische Walser Bauart. Das Walserhaus ist ein historischer Blockhaustyp.

Seine Bauweise basiert auf der der alten Gommerhäuser. Sie hat sich aber den unterschiedlichen örtlichen Gegebenheiten angepasst.

Interessant ist, wie die Ställe mit Erdaufhäufungen gegen Lawinen geschützt wurden.

1905 kamen zehn Menschen bei einem Lawinenunglück ums Leben.

Einmal drangen Schneemassen und mitgetragene Baumstämme durch das Portal ins Innere der Kirche. Kurzerhand mauerte man den Eingang zu und benutzte nur noch eine kleine Seitentüre.

Bis ein wohlhabender Mann eine kleine Kapelle stiftete. Sie wurde strategisch vor dem Haupteingang positioniert – und das Portal konnte wieder geöffnet werden.

Die kleine Kapelle mitsamt Maria würde allenfalls plattgewalzt – aber die Lawine vor dem Kirchenportal aufgehalten.

In der Kirche findet man Zeugen aus den verschiedensten Epochen. Die Fresken erzählen Bildergeschichten, geschaffen Jahrhunderte vor der Erfindung von Comics.

Links vom grossen Bogen sind die Freuden des Himmels gemalt, rechts die Qualen der Hölle. Angst vermitteln war ein wichtiges Element der Religion damals.

Verspielt wirken die beiden kleinen Engel, die vom Kreuz hängen.

Die Fenster der Wohnhäuser sind klein, mancherorts findet man ein kleines Schiebefenster, damit bei Todesfällen die Seelen in den Himmel fliegen konnten.

Kommunikation und Journalismus ausgehendes 16. Jahrhundert: Damals war die “Zeitung” 1’800 Kilogramm schwer.

Fast schon etwas gruselig sind die Sühnekreuze, die Mörder aus Stein hauen mussten.

Beeindruckt haben mich die “Heinzen”. Sie wurden für das Trocknen von Gras auf den Wiesen verwendet.

Stefan Heim, Chronist der Gemeinde Mittelberg, ist Experte für alles, was sich um Geschichte und Kultur des Kleinwalsertals dreht.

Er hat uns Einlass gewährt in sein ganz persönliches “Walsermuseum” in seinem Elternhaus.

Ein Anliegen ist Stefan Heim auch der Erhalt der Kleinwalsertaler Mundart, der man den Ursprung aus dem Wallis leicht nachweisen kann. Alle sprechen von „ünsch“ oder „önsch“ statt von „uns“, sie sagen „deicha“ und „tricha“, wenn sie „denken“ und “trinken” meinen. Leider sind Walser Dialekte mancherorts bedroht oder gar am Verschwinden. (Gedicht)

Im Privathaus der Familie Heim findet man beispielsweise alte Vorrichtungen, in die man Wachs goss, um Kerzen zu produzieren.

Wenn das schmale Bett mit der Wiege daneben oder das Horn erzählen könnten?

Es gibt auch ein “offizielles Walsermuseum” in Riezlern. Es umfasst über 1200 Exponate und bietet einen Einblick in das Leben und die Arbeit im Kleinwalsertal. Auch verschiedene Sitten und Bräuche, religiöse Volkskunde und Wohnkultur werden vermittelt. Trachten und Exponate aus Tier- und Pflanzenwelt und der Alpkultur locken jährlich viele Besucher an.

Mir hat es aber Stefans kleines Privat-Museum angetan. Es birgt Geheimnisse und viele Geschichten.

Über mehrere Kulturwege kann man die Kultur des Kleinwalsertales kennen lernen. Informationstafeln geben leicht verständlich einen Einblick in Geschichte und Kultur.

Touristisch attraktive Alpentäler gibt es viele. Und durch das Kleinwalsertal fährt man nicht mal eben durch, man fährt hin. Dazu braucht es überzeugende Gründe.

Elmar Müller, seit über sechs Jahren PR Manager bei der Tourismus eGen, sprudelt vor Ideen, wie sich das Kleinwalsertal touristisch immer wieder neupositionieren kann – denn er ist ein waschechter, überzeugter Kleinwalsertaler. Er setzt nicht auf die Menge der Touristen, sondern auf deren Erlebnisqualität.

Man soll sich im Kleinwalsertal wohl fühlen – slow down – sich erholen und sich mit der Natur verbinden, indem man sich darin bewegt und sich selbst und die Umgebung intensiv wahrnimmt. Dazu gehören gemütliche, kleine und feine Anlässe, dazu gehören kulinarische Genüsse, Wellness und die Gastfreundschaft der Kleinwalsertaler Familien.

Im Kleinwalsertal braucht man als Gast kein Auto. Im 10-Minutentakt verkehrt der kostenfreie Walserbus auf der Talachse und bedient die Talstationen der Bergbahnen.

Die Bergbahnen und Lifte vom Kleinwalsertal (A) und Oberstdorf (D) haben sich zu einem Verbund zusammengetan.

Mit einer Hotelbuchung kann man quasi ein GA mitbuchen. Damit kann man die sechs Bergbahnen und zwei Lifte so oft nutzen wie man will.

Daraus ergeben sich unzählige Wandermöglichkeiten über 185 Kilometer markierte Wanderwege.

Und wenn Schnee liegt, ist das Kleinwalsertal sowieso ein Traum-Skigebiet. Sommer- und Wintertourismus sind etwa gleich ausgeprägt. Im Kleinwalsertal machen zwar alle Altersstufen gern Ferien – das Party-Life ist aber absolut nicht Ibiza-like.

Für Elmar Müller stehen die Bedürfnisse der Gäste im Zentrum. Diese haben sich in den letzten Jahren verändert. Über Internet wird heute kurzfristig gebucht, man hat lieber mehrere Kurzaufenthalte statt drei Wochen Urlaub, was heisst, dass man die Jahreszeiten im Tal individuell geniessen kann: Beispielsweise im Frühsommer die blühenden Alpenblumen, im Hochsommer die angenehme Temperatur zum Klettern, Wandern und Biken, im Herbst die Wildspezialitäten, im Advent das entstressende Wellnessen, im Winter den Wintersport und im Frühling das Erwachen der Natur.
Gäste suchen heute nachhaltige Erlebnisse, von denen sie erzählen können. Beispielsweise von den Bienen im Kleinwalsertal.

Fälschlich wird das folgende Zitat Einstein zugesprochen: «Wenn die Biene einmal von der Erde verschwindet, hat der Mensch nur noch vier Jahre zu leben. Keine Bienen mehr, keine Bestäubung mehr, keine Pflanzen mehr, keine Tiere mehr, kein Mensch mehr.»
Elmar Müller hat sich vom Thema Bienensterben aufrütteln lassen – und wie immer, wenn er bewegt ist, bewegt er was. Er hat sich zum Ziel gesetzt, das Kleinwalsertal als Paradies für Bienen und Insekten aktiv zu erhalten.

Ein Werbemittel des Kleinwalsertales sind Tüten mit einer von Experten zusammengestellten Blumensamenmischung. Die Samen werden von Wanderern im Tal verstreut, aber auch in die Welt hinausgetragen.

Diesen Sommer wurde in Hirschegg ein öffentlicher Blühgarten angelegt, zudem werden interessante Fakten zu Bienen und Insekten dargestellt. Gäste wurden und werden ins Projekt integriert, zudem die Schulklassen des Tales.

Wer genau hinschaut, findet Bienenhotels im Dorf – auch die Bevölkerung macht mit.
Gäste, die sich fürs Projekt BE[E]Kleinwalsertal engagiert haben, wollen nächstes Jahr bestimmt sehen, wie die Sache sich weiterentwickelt – clevere PR!

Honig gibt es auch auf dem Markt.

Die Kleinwalsertaler sind offen und freundlich zu ihren Gästen und sorgen für Blumenschmuck.

Die alten Walserhäuser sind mit viel Liebe zu Details gepflegt.

Die Kleinwalsertaler zeigen mit Dekorationen Kreativität und Humor. In diesem Tal finden sich bestimmt einige “Originale”, die mit Humor ganz einfach sich selbst sind.

Es gibt im Tal auch “weise Frauen“, die den Gästen auf Wanderungen und in Kursen die Flora des Tales und die Heilwirkungen der Pflanzen vermitteln.

Elmar Müller setzt bei den Angeboten für Touristen auf Umwelt und Nachhaltigkeit. Er zeigt gern den Garten von Andi Haller. Dieser nennt sich Permakulturist und Mentalcoach. Er lebt ohne Segen der Obrigkeit in einer Hütte und zeigt seinen Besuchern seinen Selbstversorgergarten. Er hat ein Selbst-Projekt mit dem Ziel, seinen ökologischen Fussabdruck auf unserem schönen blauen Planeten auf einem absoluten Minimum zu halten. Es braucht Mut, nicht nur von Ökologie und Nachhaltigkeit zu sprechen, sondern sie mit Konsequenz zu leben.

Nach dem Besuch bei Andi Haller ist man wahrscheinlich nicht ein anderer Mensch, aber ein paar seiner Ideen will man zuhause gern ausprobieren. Aus seinem Garten beliefert der Natur-Freak auch Hotels der Region.

Passend zur Naturnähe und der gelebten Verantwortung gegenüber der Umwelt finden sich im Kleinwalsertal viele Bio-Betriebe, beispielsweise Bauernhöfe mit Hofläden oder Gastronomie-Betriebe.

Jeremias und Bettina Riezler führen die Walser Stuba und leben das kulinarische Erbe der Alpen aus voller Überzeugung. Jeremias nutzt – wenn immer möglich – regionale Produkte. Seine Definition: «Besteige bei guter Fernsicht den grossen Widderstein und schaue dich um – soweit das Auge reicht ist regional.» Jeremias Riezler serviert im Puppenwagen (Bobba-Woga) wunderbare Sorbets wie Löwenzahn/Brombeere oder Rosmarin/Stachelbeere.

Man pflegt sowohl herzhafte Käsespätzle als auch Sterneküche.

Erlebnis-Gastronomie gibt es auch im Ifen-Hotel Kleinwalsertal*****, wo der Hausherr die Gäste auch mal in der Küche zum Apéro begrüsst.

Die Kleinwalsertaler Kühe leben ein gutes Leben mit viel Bewegung und saftigen Bergkräutern. Sie werden nicht exportiert, sondern der Gastronomie und den Fleischern im Tal «zugeführt». Besonders stolz sind die Kleinwalsertaler auf ihren Käse.

Freitags findet in Hirschegg der Wochenmarkt statt.

Hier findet man viel Selbstgemachtes und Spezialitäten wie Honig, Fleisch und Kräuter aus dem Tal. Gern kommt man mit den Leuten aus dem Tal ins Gespräch.

Hier geniesst man “einfache” Dinge, wie das frische Wasser.

Oder die Wärme von Holz an der Sonne und die kleinen Schönheiten des Alltags.

Dass Elmar Müller und sein Team mit der Kombination von Tradition und Innovation vieles richtig machen, beweist die Tatsache, dass das Kleinwalsertal heute Österreichs drittgrösstes Tourismusziel und die beliebteste österreichische Urlaubsdestination der Deutschen ist.

Im Kleinwalsertal lässt es sich wohl sein!

Der Mensch ist für die Freude,
die Freude ist für den Menschen.

Franz von Sales, 1567 – 1622

Musik

Walsermarsch vom Kleinwalsertaler Komponisten Wilhelm Fritz
Wildbächle Melodien von Wilhelm Fritz
Mittelberger Musikanten

Elmar Müller, der sein Kleinwalsertal mit viel Herzblut vertritt, wirkte auf mich wie ein gutmütiger Bär.

Dank

Mein Dank geht einmal mehr an Daniel Predota von Österreich Werbung Schweiz und an Elmar Müller von Kleinwalsertal Tourismus.

Super Beitrag von meiner Kollegin Silvia Schaub in der Aargauer Zeitung.

Buchtipp

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  1. Ruth

    Liäbi Regula, da häsch dü diär en enz Arbeit gmacht. Dü häsch toll recherschiärt und dinu Bildjini sind äxtraklass. D’Hiischini, d’Chiälini mit Horu!, zganzi Brüchtum – wiä im Wallis. Üssär d’Guggelhopfform – da hei wiär no immär ä Chüächä dri … 😉

  2. Elmar - Bär

    Vergelt’s Gott liebe Regula ! Es war mir eine Ehre mit Euch durch das Kleinwalsertal zu streifen und Euch meine Heimat zu zeigen.

    Gruß vom BÄR 😉

    Elmar

  3. Rita

    Ob das Leben dort in Wirklichkeit auch so idyllisch ist, wie es auf den wunderschönen Bildern wirkt?

  4. ritanna

    so uurchig wie diese Walsermenschen ihr Leben nutzen und alles was sie zum Leben brauchen ist einzigartig. Ebenso einzigartig in liebevoller Achtsamkeit Dein Bericht in Wort und Bild.

  5. Riezler

    RIEZLER. Es heisst Riezler. Ohne T.
    Herrgoläss!

  6. Beatrice Straumann

    Oh, liebe Regula

    Auch ich hätte gerne in einem meiner früheren Leben als freiheitsliebende Walserin gelebt. Dein Bericht geht unter die Haut.
    ….und Elmar Müller der Bär, ist ein super Typ, den sollten wir klonen.

    Dangscheen vielmool für das journalistische Meisterwerk

  7. Sissi Fritz

    Wieso hast du unsere schöne Tracht weggelassen? Sie ist ein wichtiger Bestandteil unserer Kultur, sie lebt, wird noch getragen und wir sind stolz darauf.

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