36-Stunden-Ausflug ins Tessin

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Es gibt Tage wie Perlen – sie reihen sich aneinander, gehen als einzelne Tage ein in Wochen und Monaten. Gut. Aber eigentlich schnell vergessen.

Es gibt Tage, da schnellt die Erlebniskurve matterhornmässig in die Höhe, man erlebt intensiv und es bleiben Erinnerungen. Klunker in der Perlenkette.

Intensiv gelebt habe ich 36 Stunden vor dem Muttertag. Mir wurde wieder einmal bewusst, wie wenig manchmal in 36 Stunden Platz bekommt, und wie manchmal viel in 36 Stunden Platz findet.

Morgens um sieben sitze ich im Postauto Richtung Bahnhof. Am Zugersee knipse ich schnell zwei Mal aus dem Zugfenster.
Das Gotthardloch ist mega lang – aber deshalb komme ich auch schnell in Mendrisio an, wo ich abgeholt werde.

Vom Parkplatz geht’s ins Dorf hinein, vor der Mauer nach der Madonna links, geradeaus, dann rechts – und schon um 10 Uhr bin ich da.

Ich liebe dieses alte Tessinerhaus in Tremona.

Wenn diese Treppe erzählen könnte. Der Schweizer Schriftsteller Walter Matthias Diggelmann lebte beispielsweise drei Jahre lang in diesem Haus und es muss ziemlich wild zu- und hergegangen sein.

Nach einer gemütlichen Apéro-Plauderstunde wandern wir Richtung Meride.

Unterwegs bestaunen wir die Blumen. Schwertlilien wachsen direkt in den Himmel.

Die Wiesen stehen voller Margeriten und Wiesensalbei.

Unser Ziel: Das Grotto Fossati, eines der typischen Tessiner Grotti, wo Porcini, Brasato, Coniglio, Risotto und Polenta auf der Karte stehen.
Ein armes Wildschwein hatte sich an diesem Tag auch noch auf das Menü verirrt: Cinghiale.

Sauber geschruppt warten die Kupferkessel auf ihren Einsatz.
Über der Glut köchelt die Polenta leise vor sich hin und wird immer mal wieder umgerührt.

Die Merlotflasche wirft ihren Schatten auf die Polenta.

Hier im Schatten lässt es sich gut geniessen. Langsam ziehen dunkle Wolken auf und wir machen uns auf den Heimweg.

Wir entdecken einen laut gähnenden Baum, der den Mund so weit aufsperrt, dass man das Halszäpfchen sieht.

Auch im Dorf gibt es viel zu entdecken.

Am besten gefällt mir die Jahrhunderte alte Dorf-Viehtränke, die in eine grosse, dicke Mauer eingelassen ist. Geht man in die Hocke und schaut in die linke obere, dunkle Ecke, staunt man. Hier hat sich doch tatsächlich ein Maierisli eingenistet.

Als wir im Haus eintreffen, fallen die ersten Regentropfen. Bald stürmt, blitzt und donnert es und ich schlafe eine Stunde. Wird die Premiere im nahen Steinbuch von Arzo stattfinden oder fällt alles buchstäblich in Wasser?
Der Beginn wird auf 21.30 Uhr verschoben.

Schon lange haben wir die Tickets zum Spettacolo im alten Marmor-Steinbruch in Arzo.
Juri Cainer ist Künstler, geboren und aufgewachsen in Arzo. Name nicht bekannt? Er ist der Sohn von Gardi Hutter, die in Arzo lebt. Die künstlerische Leitung des gesprochenen, gesungenen und getanzten Stücks “Cava” liegt in ihren Händen, ihr Sohn führt die Regie.

Man versammelt sich vor dem Steinbruch und schon wieder gibt es Prosecco.

Gemeinsam geht das Publikum in die Dunkelheit los – keine Chance für High Heels.
Überall spiegeln die Wasserlachen die gespenstischen, mythischen Szenen.
Ein Kristallleuchter scheint vor der Steinwand zu schweben.

Graurosa marmoriert gekleidete Tänzer scheinen mit den Steinen zu verwachsen und sich wieder zu lösen. Geniale Leistung der Tänzerinnen und Tänzer!

Es ist, als würde der Marmor lebendig. Es klingt, als würde Stein gehauen.
Ein Chor begleitet mit Perkussion und Stimmen – weit oben, auf der Stufen des Steinbruchs.

Grosse Laternen bewegen sich durch die Zuschauermenge und sprechen. Geschichte – Geschichten.

Mehr sehe ich nicht von Gardi Hutter, die das Meer sucht.

Man wandert weiter, in die vor einem Jahr gebaute Arena im Steinbruch. Und rund herum, Stufen hinauf und hinunter, von Szene zu Szene.Weit oben singt der Chor. Die Wand wird zur Projektionswand – Fische schwimmen hin und her. Ein Schiff kommt. Zum Schluss tanzen Zuschauer und Akteure in der Arena. Ich bin völlig fasziniert, auch wenn ich nicht alles verstanden habe. Aber in einem Steinbruch soll es auch Geheimnisse geben, die bleiben, was sie sind. Steine sind stumm. Aber in dieser Nacht haben sie viel erzählt.

Erst gegen Mitternacht war das Spettacolo vorbei – bestimmt haben die Darsteller ihren grossen Erfolg noch lange gefeiert.

Am anderen Morgen zieht es mich in den Steinbruch zurück. Plötzlich wirkt er klein, nur wenige Spuren sind von der Nacht zu sehen. 

Einfach ein beinahe stillgelegter Steinbruch.
Die Wege und Stufen, die nachts zu erklimmen so mühsam war, scheinen jetzt unspektakulär.

Diese Steine waren Requisiten bei der Vorstellung. 

Im kleinen Teich spiegelt sich der Himmel und die Steinbrocken lassen ihre innere Schönheit erahnen.

Die Stufen zeigen, wie die Menschen den Fels verletzt und ausgebeutet haben.

Wir steigen höher und höher und entdecken immer wieder Spuren der Steinbrucharbeiter, die weitere Marmorvorkommen gesucht haben.

Wo nach Marmor gesucht wurde, sammelt sich Wasser und spiegelt den Wald.

Unter den Moosschichten liegen graue Steine, unter dem Grau findet man die typischen Farben des Arzo-Marmors.

Überall blühen Blumen.

Auch Orchideen blühen hier.
Es geht steil aufwärts und mir wird wieder einmal bewusst, dass der Tessin ein Bergkanton ist.

Schliesslich führt uns der Weg hinunter ins Dorf Arzo.
In der Kirche finden wir den bearbeiteten Marmor.

Er ist wirklich sehr speziell.

Man findet ihn an Bürgerhäusern. Besonders schön ist die Kirchentreppe.

In Arzo findet man viele faszinierende Details, Marmor, auch schöne Patina an Türen und Fensterläden.

Um 17.00 Uhr fährt unser Zug in Mendrisio ab – um 19.00 Uhr bin ich wieder zuhause. 36 Stunden – und so viel erlebt!

Schreibe Kränkungen in Staub,
Wohltaten in Marmor.

Benjamin Franklin, 1706 – 1790

Musik
Tessiner Lieder, Roberto und Dimitri
Risotto d’osteria – Tri Perdù
“Terra Ticinese” – Swiss Military March
Tessiner Volksmusik
Mandolinen Tessin
Tessiner Lieder 

Gardi Hutter

Informationen zu Cava, 360° Spektakel in den restaurierten Marmor Steinbrüchen von Arzo. Weitere Aufführungen: 17., 18. und 19. Mai 2018

Wir konnten die Tickets über “Amici del Ticino” beziehen. Es gibt immer wieder einzigartige Anlässe. Vor einem Ausflug ins Tessin unbedingt das Programm anschauen.

Grotto Fossati

Danke
Ich danke meinem Bruder Thomas und seiner Frau Franca für die liebevolle Gastfreundschaft.

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Auf den Spuren des Absinth

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Heimkommen ist das Beste

  1. Ritanna

    “Wo nach Marmor gesucht wurde, sammelt sich Wasser und spiegelt den Wald”-
    schreibst Du. Für mich ist es ein grosses Fenster im Fels . Ich sehe in den Wald hinaus!
    Und sehe ich richtig, Coop, Swisslos,, Raiffeisen, Mendrisio uam. unterstützen CAVA Kultur in der fünften Schweiz. Das finde ich toll – Findet dieses abenteuerliche Szenario immer wieder verteilt auf den Sommer statt ? Man müsste hin gehen – so wie Du! Vielleicht gilt die Raiffeisen Karte als vergünstigte Eintrittskarte. Mal sehen. Das wäre doch irre.
    Ich staune, nebst dem fotographischen Festhalten und dem Klettern, hast Du auch noch die ganze Stimmung und die die künstlerische Leistung und Kulisse bestens herausgemeisselt.
    In unseren Kirchen hat man sich so ans Bild des Marmors gewöhnt, sodass man sich nicht mal mehr eine Vorstellung macht unter welchen Umständen und mit welchen “primitiven” Hilfsgeräten der Marmor abgebaut und geschliffen wurde bis er quasi wie ein Diamant glänzte und immer noch bezaubert.

  2. Zineta

    Liebe Regula du hast erlebnisse wünderschöne imer wider. Muttertag gibt bei mir leider nicht. An Tesin erinere ich mich alls ich ein mall mit Jiliana war sie hat mich eingeladen in Magnolien blüehen zeit znd da hat es ganzen tag nur geregnet. Liebe grüsse.

  3. Elisabeth

    Liebe Regula, und schon wieder kannst du über spannende Abenteuer berichten. Dein Bericht erinnert mich an meinen letzten Aufenthalt im Tessin, mit einer sehr guten Freundin. Damals hatten wir die Zeit komplett ignoriert… und in vollen Zügen genossen 🙂
    Die Gegend ist wirklich so vielfältig und wunderschön.
    Danke

  4. Beatrice

    Ich möchte auch so einen Bruder und eine Franca haben, welche mir das Tessin so wunderschön zeigen und ich mit ihnen soviel erleben könnte, hast du ein Glück, liebe Regula.
    Danke schön für “Amici del Ticino”, diese Adresse habe ich mir gemerkt.
    Es liäbs Griessli vo dr Béatrice

  5. Thomas+ Franca

    Eine wunderschöne Erinnerung an unsere gemeinsamen Stunden im Tessin!

    Vielen Dank und liebe Grüsse

    Thomas+ Franca

  6. elfi

    Immer wieder spannend, mit dir “von zu Hause aus” auf Reisen zu gehen.

  7. Mareike

    “Es gibt Tage, da schnellt die Erlebniskurve matterhornmässig in die Höhe, man erlebt intensiv und es bleiben Erinnerungen.”

    Es sind genau diese Tage, an denen wir uns das ganze Leben zurückerinnern können und wollen. Es sind genau diese Tage, von denen wir immer sprechen werden, wenn wir mit unseren alten Freunden wieder zusammensitzen. So schön die Gegenwart ist, zusammen mit guten Freunden über die gemeinsame Vergangenheit zu sprechen, ist einerseits melancholisch, andererseits erfüllt es mich mit Freude.
    Auch wenn ich nicht mehr die jüngste bin, versuche ich jeden dieser “Tage” mitzunehmen. Das Leben ist zu kurz für selbstgemachten Eistee auf der Veranda. Ich will die Welt erleben und und die Welt erfahren!
    Und wenn ich eines Tage in Rente bin, will ich mir keine Sorgen ums Geld machen. Ich will reisen und das Leben genießen. Doch ich weiß auch, dass ich für dieses Vorhaben jetzt schon planen muss. Daher habe ich mich zusätzlich privat rentenversichert – ich freue mich schon auf die Zeit! Und bis dahin, werde ich weiterhin die Tage genießen und mich am Leben erfreuen.

    Vielen lieben Dank für den sehr inspirierenden Beitrag! : -)

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