Im Eichsfeld, einst im Schatten der Zonengrenze, geniesst man ländliche Idylle und ist gleichzeitig mit Erinnerungen an die DDR-Zeit konfrontiert.
Ursprünglich ein historisches Territorium, ist das Eichsfeld heute eine Kulturlandschaft im Herzen Deutschlands: im südöstlichen Niedersachsen, im nordwestlichen Thüringen und im nordöstlichen Hessen.
Es gibt Namen, die gefallen mir und da will ich hin.
Ein solcher Begriff ist “Waldviertel”. Ich besuchte die nordöstliche Region Österreichs und verliebte mich in diese stille Landschaft, wo die Zeit stillgestanden zu sein scheint. Kein Wunder, das Waldviertel lag lange Zeit im Schatten der Zonengrenze zu Tschechien. Bauerndörfer und über weite Strecken kein einziges Haus, dazu liebe, offene Menschen, da fühle ich mich wohl.
Das andere Wort, das mir gefällt, ist “Eichsfeld”. Auch dies eine idyllische Landschaft, liebe Menschen. Und auch diese Region stand im Schatten der Zonengrenze.
Beide geografischen Namen implizieren Natur, grüne Weite und Bäume.
Grüne Weite auch hier, aber…
Die knapp 1400 Kilometer lange innerdeutsche Grenze hinderte bis 1989 durch massive Befestigungen die Einwohner der DDR an Besuchen in der BRD oder dem dauerhaften Verlassen der DDR.
Menschen, die in Bauernhöfen, Handwerksbetrieben und kleineren Dörfern in unmittelbarer Grenznähe lebten und arbeiteten, mussten existenziell unter der Zonengrenze leiden.
Mehrheitlich wurde die Aufgabe von Häusern und Dörfern erzwungen; die Bewohner wurden nach und nach umgesiedelt, die Gebäude geschleift.
Wer nahe der Grenze blieb, litt unter lebenseinschränkenden Bestimmungen und Gesetzen.
Seit 1954 bestand auf dem Gebiet der DDR offiziell ein Sperrgebiet. Dieses setzte sich aus einer vorgelagerten 5-km-Sperrzone, gefolgt vom 500 Meter breiten Schutzstreifen und dem Kontrollstreifen unmittelbar vor dem Grenzzaun zusammen.
Das Betreten der 5-km-Sperrzone und des Schutzstreifens war nur unter besonderen Bedingungen gestattet, für Anwohner etwa durch einen Vermerk im Personalausweis, für Besucher durch einen extra auszustellenden Passierschein. Handwerker, die hier eine Arbeit erledigen mussten, durften sich nur unter Begleitung eines Wachkommandos im jeweiligen Grenzabschnitt aufhalten.
Die innerdeutsche Grenze bestand aus mehreren Metallgitterzäunen mit Signalanlagen und Gräben. Nachts wurde der Schutzstreifen beleuchtet.
An der Grenze waren rund 30.000 Grenzsoldaten der Grenztruppen der DDR stationiert. Sie hatten Schiessbefehl.
Zudem war die Grenze seit 1961 auf ostdeutscher Seite teilweise vermint und mit Signalzäunen, Hundelaufanlagen und Selbstschussanlagen ausgestattet, man nannte dies Todesstreifen.
Betonelemente wie in der Berliner Mauer wurden bei grenznahen Siedlungen verwendet. Diese beiden Elemente sind Kopien und stehen im Grenzmuseum Schifflersgrund.
In Schengen in Luxemburg habe ich originale Mauerstücke gesehen – Mahnmale.
Im Eichsfeld ist die Erinnerung an die ehemalige Zonengrenze allgegenwärtig.
In den Jahren 1945 bis 1949 verlief hier die grüne Grenze, die Demarkationslinie zwischen der britischen und der sowjetischen Besatzungszone. Als 1949 auf dem Gebiet der drei Westzonen die Bundesrepublik Deutschland und in der sowjetischen Besatzungszone die Deutsche Demokratische Republik gegründet wurde übernahmen westdeutsche Grenz-Zöllner und die Volkspolizei der DDR die Bewachung der Grenze.
Über vier Jahrzehnte trennte eine fast unüberwindbare Grenze Deutschland in West und Ost. Sie war Bestandteil des „Eisernen Vorhangs“ von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer.
Beobachtungstürme, Stacheldraht, Streckmetall und Minen wurden auf 1378 km eingesetzt, um die Menschen aus der DDR daran zu hindern, in den Westen zu gelangen.
Wo einst Menschen Fluchtversuche aus der DDR in den Westen unternahmen, befinden sich heute Orte der Erinnerung wie das Grenzmuseum Schifflersgrund in Bad-Sooden-Allensdorf.
Ein hoher Wachturm überragt das Museumsgelände und Wachbunker, in denen Grenzsoldaten bei allen Temperaturen und Wetterlagen stundenlang Wache halten mussten, geben einen Eindruck, wie es früher hier gewesen sein muss.
Die Wucht der Gebote prallt mit einer Wand voller Schilder auf die Museumsbesucher.
Motorengeräusche von den gezeigten Fahrzeugen müssen für Fliehende die Hölle bedeutet haben.
Die meisten Fahrzeuge sind heute noch in Betrieb und Besucher dürfen manchmal mitfahren.
Sie fahren durch die Museumsanlage und durch grüne Wiesen entlang dem Zaun.
Wer ganz genau hinschaut, entdeckt im linken Waldabhang ein weisses Kreuz. Hier verblutete während rund zwei Stunden Heinz-Josef Grosse, 1947 bis 1982, getroffen von ostdeutschen Grenzsoldaten vor den Augen der machtlosen Westgrenzer, zwanzig Meter vor der bundesdeutschen Grenze.
Im Grenzmuseum Schifflersgrund wird die Flucht von Heinz-Josef Grosse dargestellt.
Er ist einer von 26 Menschen, die an der damaligen innerdeutschen Grenze zwischen Hessen und Thüringen ums Leben kamen.
Zwei etwa 19-jährige ostdeutsche Grenzsoldaten haben die tödlichen Schüsse abgegeben. Hätten sie nicht geschossen, hätten sie mit Sanktionen rechnen müssen, die ihre Zukunft schwer belastet hätten. Nach dem Fall der innerdeutschen Grenze mussten sie sich vor einem Gericht verantworten. Die Strafe fiel nicht hoch aus – aber wie leben die beiden heute?
Die Geschichte ist im Eichsfeld allgegenwärtig, zeitlich bedrückend nah und emotional spürbar.
Im Museum und im ganzen Eichsfeld wird nicht verdrängt, sondern aktiv aufgearbeitet. Wer eine Führung im Museum mitmachen kann, wer den älteren Menschen hier respektvoll zuhört, bekommt eine Menge Informationen und persönliche Geschichten erzählt, die einen nachhaltig beschäftigen.
Umso mehr erschreckt es, wenn man liest: “Seit 2011 findet in der Region jährlich das neonazistische Rechtsrock-Festival „Eichsfeldtag“ statt, das vom verurteilten Neonazi und NPD-Politiker Thorsten Heise begründet wurde.”
Oder: ” Besondere Wandererlebnisse bieten sich zudem entlang des ehemaligen Grenzstreifens – dem Grünen Band. In völliger Abgeschiedenheit konnte sich hier eine artenreiche Tier- und Pflanzenwelt entwickeln.”
Diese Nähe der Gegensätze von Idylle und Gewalt ist mir als Schweizerin fremd. Umso mehr Respekt und Bewunderung bringe ich den Menschen hier entgegen. Nicht weit vom Grenzmuseum findet man den Hof Sickenberg, ein kleines Paradies.
Er spiegelt die neue, konstruktive Kultur des Eichsfeldes.
Kristina Bauer übernahm mit ihrer Familie den malerischen Hof und restaurierte die Gebäude. Sie pflanzte eine Gartenanlage an, richtete ein Hofcafé ein, man kann in heimeligen Gästezimmer übernachten, einen Kochkurs besuchen, Gras schneiden lernen mit der Sense und vieles mehr.
Selbst Brot backen kann man im Backhaus.
Vorbei sind die Zeiten, als die greise Hofbewohnerin auch nachts zum Plumpsklo im Freien musste.
Kristina Bauer hat sanft renoviert, eine alte Girlande hervorgeholt und nachgemalt. Freundliche Gästezimmer warten auf Gäste – hier lässt es sich wirklich Ferien machen.
Der Hof lebt, hier gibt es Tiere – und Produkte aus dem Hof kommen auf den Tisch.
Kuchen!
Und Käse von einer befreundeten Käserin, die ihr Handwerk in Tinizong in der Schweiz erlernt hat.
Es ist grün hier – nur die Katze ist rot.
Stare pfeifen vom Dach.
Aber auch hier: Tiefe, Tiefgründiges – denn der Hof spiegelt auch seine Geschichte im 500 m breiten Schutzstreifen an der Zonengrenze.
Der Hof Sickenberg ist ein typisches Beispiel wie innovative Eichsfelder ihre Region zu einem Mekka für sanften Tourismus entwickeln.
So baute eine junge Frau den Hof ihres Grossvaters zu einem wunderschön dekorierten Café aus, in dem es traumhafte, selbstgemachte Kuchen gibt.
Ein junger Bierbrauer betreibt die Eichsfelder Biermanufaktur.
Der idyllische Hauptort Heiligenstadt wird vom Rübenkönig beherrscht.
Die Stadt beherbergte namhafte Persönlichkeiten.
Rilke, Goethe und Heine.
Theodor Storm hat hier geschrieben und ist präsent…
…mit der Regentrude und Pole Poppenspäler, einer Geschichte, die mir mein Vater erzählt hat.
Eine Skulptur, die mich begeistert, ist die älteste Strassenhändlerin, 95 Jahre alt, von der in Göttingen ein Denkmal steht. Ich weiss nicht warum, aber dieses berührt mich – wie so vieles im Eichsfeld.
Das Grösste, das ein Mensch empfangen kann, ist dieses: Gesehen zu werden, gehört zu werden, verstanden zu werden, berührt zu werden. Das Grösste, was ein Mensch geben kann, ist dieses: Den anderen zu sehen, zu hören, zu verstehen, zu berühren.
Virginia Satir
Musik
Lieder ohne Worte, Felix Mendelssohn
Marsch: Gruss an Thüringen
Thüringer Festmahl
Hörbücher Theodor Storm
Pole Poppenspäler
Die Regentrude
Informationen
Grenzmuseum Schifflersgrund
Hof Sickenberg
Super Beitrag zum Eichsfeld von meiner Freundin Anne Webert.
Dank
Mein Dank geht an Katherine Rolli von Tourmark sowie Mandy Neumann von Thüringer Tourismus GmbH und Ute Morgenthal von HVE Eichsfeld Touristik.
Danke auch an Barbara Blunschi, mit ihr zusammen zu reisen, macht Spass.
Mary
Sehr beeindruckend…und wie immer – superschöne Fotos!
Meggi
Schöne Bilder, interessanter Beitrag und ein schöner Bauernhof man spürt die weite und Ruhe wenn man die Bilder betrachtet.
Ritanna
az:4. Febr.2014 Dienstags; „Er hatte die Nase voll von der DDR,“ dies war:
Johannes Dittrich, geb. 12.01.1935 – 02.09.2015 in Bremgarten Aargau.
1954 als 18/19-Jähriger, als Jüngster der Familie, machte er sich aus der DDR auf die Flucht. Er ging aus dem Haus, ohne dass Mutter, Vater, Bruder nur eine Ahnung hatten. Er erreichte Westberlin auf dem Trittbrett der Bahn. Ein Blick, ein Schuss, er wäre nie angekommen.
Hans schilderte uns die Flucht, wie er tagelang durch den Wald robbte.
Mich freut es noch heute, dass ich einen Journalisten animieren konnte, mit mir zusammen die “Schreckensmomente” der damalige Situation und den sturen Mut dieses jungen Mannes anzuhören. Später, in den 1970-ziger Jahre konnten er, nun als Schweizer, er und seine Frau seine Verwandten wieder besuchen unter den widerlichsten Umständen kamen sie über die Grenze und jeweils wieder zurück. Seine Tante kniete von der Abfahrt bis zum Zeitpunkt, da sie ein Zeichen der Ankunft erfuhr auf dem nackten Boden und betete zum Himmel, dass sie wieder heil über die Grenze kämen, den beiden nichts geschehe.
Das Ehepaar wurde Zeuge von schrecklichen Geschehnissen noch in diesen Jahren bis zum Mauerfall.
Es geht einem unter die Haut. Umso mehr die Freude, die heutigen Menschen vom “ehemaligen Drüben” , kamen seit es ihnen möglich wurde, jedes Jahr dankbar zu dem unerschrockenen Ehepaar, das ihnen in all den Jahren, mit Kleinigkeiten das Leben erleichtert hatte. Diese Jungen kommen noch heute einmal jährlich zur Tante .
Liebe Regula, es ist wunderbar wie Du uns “Behüteten” dieses damalige Grenzgebiet von heute aufzeigst. Sie verdienen es, dass wir ihnen unser Interesse und unsere Wertschätzung entgegenbringen. Danke.
karin Bonderer
Ein tief-beeindruckender Bericht !
Wieviel Schönes, Grässliches, Herrliches und Unsagbares vermögen doch die Menschen und die Natur zu überstehen ….um immer wieder nach vorne zu blicken und sich daran zu freuen ?!?!?!
Ich ziehe meinen Hut vor diesen Menschen.
Herzlichen Dank !