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Wer jemals eine Viehschau besucht oder einen Alpaufzug oder –abzug miterlebt hat, ist wahrscheinlich eine VIP, denn VIP = Vieh-interessierte Person.

Wenn im Herbst im Toggenburg ganze Bauernfamilien ihre Trachten aus den Schränken holen, ihre Kälber, Kühe, Stiere und Ziegen festlich herausputzen und sich punkt acht Uhr morgens juchzend auf den Weg ins Dorf machen, dann ist Viehschau. Es geht um Tradition, um Wettbewerb – und vor allem um Geselligkeit. Ich war 2012 dabei und weise nun gern auf den Termin am 4. Oktober 2017 hin – dann ist wieder Viehschau in Nesslau!


Ich war damals am Abend zuvor angereist und hatte in einem heimeligen Hotel übernachtet, damit ich um 8.00 Uhr mit dem Fotoapparat am Strassenrad stehen und den Einzug der ersten Bauernfamilien mit ihren Tieren miterleben konnte.

Kuhglockengeläut und lautes Johlen und Juchzen kündigen bereits die ersten Familien an.

Damit nicht alle Herden gleichzeitig im Dorfkern eintreffen, gilt eine einfache Regel: „Alle Familien starten auf ihrem Hof um punkt acht Uhr.“

Zuletzt treffen dann diejenigen aus den am weitesten entfernten Gehöften auf dem Viehschauplatz ein, wo die weit über tausend Kühe bereits in Kategorien nach Alter und Geschlecht an sogenannten Latten in Reih und Glied angebunden sind.

Aus allen Himmelsrichtungen treffen die Familien mit ihren Tieren ein.

Manch eine Kuh würde sich gern hinter Grünzeug und Blumen machen. Die Sennen haben viel zu tun, um die Herden in der Hauptstrasse beisammen zu halten.

Portionenweise lässt der Dorfpolizist Kühe und Autos passieren.

Offensichtlich gelten für das Führen von Vieh nicht die gleichen Promille-Regeln wie beim Führen von Fahrzeugen.

Trotz Stau sieht man bei den Autofahrern Lachen im Gesicht, wenn beispielsweise ein kleines Mädchen in Toggenburger Tracht seine weissen und braunen Geissen mit ernsthaft konzentriertem Gesichtsausdruck zwischen den Autos durchführt.

Manch ein Senn oder eine Sennerin muss einen Blitzstart hinlegen, wenn die Kühe hörnervoran auf parkierte Autos zustreben.

Ab und zu ist auch ein Bläss, ein Appenzellerhund, mit von der Partie und hilft beim Treiben.

„Eine Viehschau ist kein Viehmarkt – eine Viehschau ist pures Leben“, formulierte 2012 Werner Roth, ein pensionierter Besamungstechniker. Er amtete 35 Jahre als Besamer und kann von sich sagen, dass er bei rund 100‘000 Kälbern die Hand im Spiel hatte.

Fast alle Obertoggenburger Bauern übersommern mit ihren Tieren auf der Alp. Dies gibt nicht nur wunderbaren Käse, auch die Beziehung zwischen Mensch und Tier intensiviert sich.

Die ganze Familie vom Kleinkind bis zu den Grosseltern strahlt beim Einzug zur Viehschau Stolz aus.

Es ist letztlich der Erfolg ihrer harten Arbeit, was da dem Viehschauplatz zustrebt.

Man betrachtet kritisch die Tiere der anderen Bauernfamilie und schätzt die eigene Leistung ab.

Die Interessen sind aber nicht immer die gleichen.

In Reih und Glied an sogenannte Latten angebunden stehen die Tiere den ganzen Tag auf dem Viehschauplatz.

Sie werden bewertet und umgestellt, das heisst, an eine andere Stelle an der Latte eingereiht.

Zum Schluss steht die schönste Kuh – ganz ohne Blumenschmuck und ohne Glocke –  an erster Stelle, ihre Artgenossen in der Reihenfolge der Platzierung.

Bei der Jurierung gelten andere als die klassischen Schönheitskriterien bei Misswahlen. Ein prall gefüllter Bauch und ein hoch angesetzter, breiter Euter sind beste Voraussetzungen, um den begehrten Miss-Titel zu erringen.
Der Körperbau wird angeschaut. Die Milchadern am Bauch und die Zitzen, die Beine und Gelenke werden ertastet und bewertet und der Geburtsgang darf nicht nach oben gerichtet sein.
Die schönste Kuh wird mit einem grossen A auf dem Hinterteil bezeichnet. Die Miss Euter bekommen ein rotes E aufgemalt.

Ich lernte auch, was eine OB-Kuh (Schweizer Original Braunvieh) ist: Die Schweiz ist das Ursprungsland des Braunviehs. Bereits vor rund 1000 Jahren begann man nachweislich im Kloster Einsiedeln mit der Zucht von Braunvieh. 1869 erfolgten erste Exporte in die USA.

Das Zuchtziel war damals eine Kuh, die Milch und Fleisch lieferte und zur Zugsarbeit taugte.

So entwickelte sich ein robustes, fruchtbares, langlebiges, leistungsfähiges, anpassungsfähiges Tier, ausgeglichen in Körperform und Farbe. Seine starken Glieder und Klauen ermöglichten die Futtersuche in schwierigem Gelände.

Seine robuste Haut mit dichtem braunem Haarkleid und seine blauschwarze Augenpigmentierung erträgt extreme Sonnenbestrahlung.
In den späteren 60er Jahren des letzten Jahrhunderts wurden höhere Milchleistungen und grossrahmigere Tiere gefordert. Um dies rascher zu erreichen, kreuzten viele Braunviehzüchter mit Brown Swiss aus Amerika. Dies führte hauptsächlich zur Verbesserung der Milchleistung.
Heute gilt Schweizer Braunvieh vorwiegend als wirtschaftlicher Milchviehtyp.

Ein kleiner Teil der Milchbauern hingegen hielt an der Reinzucht von OB-Kühen fest. Sie verbesserten die Milchleistung durch strenge Selektion innerhalb der OB-Population und unter strikter Bewahrung der Fleischleistung. Heute sind OB Kühe wieder im Trend.

Die gut ausgebildeten Experten jurieren den ganzen Tag. Die schönsten drei Kühe jeder Kategorie werden dann im Ring gezeigt und die Miss wird gekürt. Sie darf an der Misswahl in Wattwil teilnehmen. Ein Experte meint: „ Eine schöne Kuh ist für mich wie ein Porsche für den Mechaniker“.

Es gibt auch manchmal Meinungsverschiedenheiten – und die Enttäuschung ist gross, wenn nicht die eigene Nummer Eins im Stall das Rennen macht. Denn jeder Bauer sieht sich selbst ein wenig als Experte.

Ob gewonnen oder nicht, am Abend ziehen die Familien mit ihren Tieren müde heim.

Die Jungen treiben noch länger Unfug mit den Ziegen, aber auch sie werden schliesslich müde.

Viehschau ist anstrengend, denn schon in der Nacht davor wird vorbereitet. Man hat viel geplaudert und diskutiert, Kühe herumgezogen und herumgeschoben, Bratwürste und Süssigkeiten gegessen und viel getrunken – anders als die Kühe, die den ganzen Tag an der warmen Sonne ausharren. Bestimmt sind die Kühe froh, wenn sie nach dem teilweise langen Weg nachhause wieder gemolken in den Ställen stehen und ihr Futter und Wasser bekommen haben.

Alle guten Dinge haben etwas Lässiges und
liegen wie Kühe auf der Wiese.

Friedrich Wilhelm Nietzsche

 

Viehschau in Nesslau: 4. Oktober 2017
Flyer Angebot Toggenburg Tourismusflyer_2016_web

Daten Schweizer Viehschauen

Museum
Ackerhus, Museum Hauskultur Toggenburg

Musik
Polka aus dem Toggenburg (Orgel)
Toggenburger Naturjodel
Gang rüef de Bruune, gang rüef de Gääle
Jodlerklub Männertreu Nesslau-Neu St.Johann
WINDBLÄSS – Verein Toggenburger Hausorgel

Tipp von Silvia Käppeli
Toggenburger Passion
Roggenburger Messe

Nachtrag

Rita hat Impressionen von der Freiämter Viehschau gemailt.
Viehschauen Daten

 

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  1. Ritanna

    Liebe Regula, hab ich gar nicht gewusst; Du bist eine ausgezeichnete VIP.
    Ich wünschte , dies Bauernleben möge uns erhalten bleiben. Anders als bei uns im Unterland: Blick; 24. Juli 2017; Milchpreis-Krise zwingt Bauer (59), seine 75 Kühe zu verkaufen. “Als ob man mir den Lebensnerv durchtrennte”. Ein hochemotionaler Moment: Bauer schiebt seine Kühe aus dem Stall. Milchpreis-Krise: “Alle kassieren, nur der Bauer geht leer aus.” meint der Bauer lakonisch.
    Schauen wir uns nochmals all die Bilder an – ist es Wahrheit oder schon bald Vergangenheit? Jedenfalls es lohnt sich den Termin vorzumerken: 4. Oktober 2017 Viehschau in Nesslau !

  2. Kathrina

    Liebe Regula,
    muss mich wieder mal melden, denn ich bin immer wieder begeistert von deinen Blogs! So vielseitig, interessant und bunt, mit tollen und toll ausgewählten Fotos.
    Auch den Alpabzug kannst du einem nahe bringen. Habe das selber, allerdings nicht ganz so bunt, auf der Strahlegg erlebt in den 70er Jahren, wo wir im höchstgelegenen Schulhaus des Kantons Zürich lebten.
    Ich werden diesen folkloristischen, und doch – erstaunlicherweise heute noch- echten Blog weiterleiten an Freunde ins Ausland, nach Deutschland und Ägypten.
    Alles Gute und weiterhin kreativen Schwung!
    Kathrina

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