Zürcher Frauen-Stadtrundgang

Meine Lieblingscousine hat sich zum Geburtstag einen Frauen-Stadtrundgang durch Zürich gewünscht.

Für sie und ihre 13 Freundinnen habe ich einen Spaziergang zusammengestellt, der ein Mix ist aus Tourismus, Biografien und persönlichen Erinnerungen.

Wirklich “Frauenpower” hatten die Äbtissinnen des Fraumünsters bis zu Zwinglis Reformation. Sie waren wirtschaftliche Unternehmerinnen mit sehr viel Landbesitz und politischem Einfluss. Nun aber von vorne…

Route: Unser Spaziergang folgt tendenziell entlang den alten Stadtmauern des Murer Stadtplans – im Süden eher zwischen der Limmat und der ehemaligen Stadtgrenze von 1576.

Vom Fraumünster spazieren wir über die Peterhofstatt und den Lindenhof zum “Globusprovisorium”, heute “Providurium”, das Sinnbild ist für die Jugendunruhen und die Entwicklungen von 1968 . Die 68-er Jahre haben meine Generation nachhaltig beeinflusst.

Mit dem Polybähnli geht es zur ETH Zürich und der Universität Zürich. Dann ist das Kunsthaus bereits nah, von wo man über die Rämistrasse wieder zum Stadelhofen gelangt.

Also: Im Bahnhof Stadelhofen komme ich an…

…und kaufe bei Sprüngli Luxemburgerli für die Gruppe, denn Zürich ohne dieses Gebäck ist undenkbar.

Der schön gestaltete Stadelhoferplatz beweist, dass Zürich auch eine Velostadt ist.

Der Brunnen vermittelt bereits ein erstes Bild, wie sich die Zürcher Männer Frauen vorstellen. Über den Löwenköpfen an der Säule stehen “herzige Mädchen” – nicht ganz ernst zu nehmen.

Auf der Treppe des Opernhauses beginnt die offizielle Führung. Bis in die 50er-Jahre besuchte man für das Weihnachtsmärchen das 1891 eröffnete Stadttheater, das später zum Opernhaus umbenannt wurde. Eröffnet wurde es mit Wagners Lohengrin und erst als 1926 das Zürcher Schauspielhaus am Pfauen eröffnet wurde, spezialisierte es sich auf Oper, Operette und Ballett.

60 Millionen Franken investierte die Stadt Zürich zu Beginn der 80er-Jahre ins Opernhaus – die Folge waren Jugendkravalle. Denn das Opernhaus ist doch eher eine elitäre Sache.

Meine Mutter erzählte mir beim Abwaschen oft Opern, später las ich Opernführer mit gruslig-wohligem Schauern. So viele Morde und Verbrechen gab es in keinem anderen Buch auf so wenigen Seiten.
Diese Operngeschichten haben auch das Frauenbild geprägt. Die Rollen sind eigentliche Archetypen, Persönlichkeitsgrundmuster. Traviata, die voller Sanftmut und Selbstlosigkeit viel gelitten hat, entspricht dem Archetyp “Maria”, Carmen der Verführerin “Eva”. In der Oper überleben es beide nicht.

Bei unserem Gang durch Zürich begegnen wir immer mal wieder solchen Frauen-Archetypen, Grundmustern, die wir – unterschiedlich ausgeprägt – alle in uns selbst tragen.

Der grosszügig angelegte Sechseläutenplatz lädt ein zum Sitzen und Sein. Apropos Sechseläuten: Bei den Zünften spielten die Frauen eine rein dekorative Rolle.

Erst wenige Jahre darf die Frauenzunft offiziell mitmarschieren, aber abends wollen die Zünfter weiterhin unter sich bleiben. 2022 wird neu verhandelt.

Aber es geht nun weiter über die Quaibrücke.

Hier sieht man Zürichs wichtigste Kirchen, die kleine Wasserkirche, das elegante Fraumünster, das imposante Grossmünster und den gemütlichen St. Peter.

Zum Zürcher Seebecken gehören Wasservögel, allen voran die vielen Möwen, die das Fernweh nach dem Meer schüren.

Wichtige Eingänge: Börsenstrasse und Stadthaus.

Im Stadthaus findet man Informationen zu unseren Familien.

Bei einem Stadtrundgang macht es Freude, kleine hübsche Details zu entdecken.

Beispielsweise bei den Fenstern des Stadthauses kann man “heiteres Beruferaten” machen, denn die kleinen Männer (keine Frauen) symbolisieren Berufe.

Vom Stadthaus blickt man  zum Grossmünster hinüber.
Die Kirchenpatrone von Grossmünster, Fraumünster und Wasserkirche waren ursprünglich Felix und Regula.

Der Legende nach kamen die Geschwister Felix und Regula mit ihrem Diener Exuperantius, im Dialekt Häxebränz genannt, als Mitglieder der Thebäischen Legion nach Zürich. Sie wollten das römische Turicum christianisieren.
Ihr Führer, St. Maurice, fand schon im Wallis den Märtyrertod. Die drei Heiligen wurden in Zürich beim Beten von den Schergen des grausamen römischen Kaisers Maximilian gefangen genommen. Trotz Folter entsagten sie ihrem Glauben nicht. Sie wurden auf dem Richtplatz bei der späteren Wasserkirche enthauptet. Sie nahmen ihren Kopf und gingen 40 Ellen weiter. Wo sie schliesslich zusammenbrachen, wurde eine Kirche errichtet, das Grossmünster.

Diese Geschichte findet man auf Wandgemälden in Zürich immer wieder dargestellt. Auch das Stadtsiegel zeigt die drei Stadtheiligen. Und nicht zu vergessen: Auch die bekannten Honigtirggel sind mit den Stadtheiligen geschmückt.
Stadtzürcher Mädchen bekamen den Namen Regula – wie ich. Kopflos bin ich auch manchmal.

Schaut man an Hans Waldmann, hoch zu Ross, vorbei, weiss man, hinter der Ecke bei der Wasserkirche steht gross und breit der Zürcher Reformator Zwingli.

Hinter Zwingli stand zeitlebens seine Frau Anna. Sie sieht man aber nicht – so wie man auch die Anna, die hinter Pestalozzi, der beim Globus steht, nicht sieht.

Am Helmhaus erinnert eine Tafel an Anna Zwingli, die erste Pfarrfrau von Zürich, die sich dafür eingesetzt hatte, dass die Gelder aus den Klöstern den Armen zugutekamen.
Beim Rüdenplatz, wenige Schritte Limmatabwärts, erinnert eine Tafel an Anna Pestalozzi, die immer wieder verhindert hat, dass ihr Gatte in den finanziellen Ruin getrieben wurde.

Zwei Zürcher Frauen, beide mit dem Namen Anna und mit einem grossen Leistungsausweis, die aber kaum beachtet werden.

Das Fraumünster gegenüber dem Grossmünster wurde im Jahr 853 von einem Enkel Karls des Grossen gegründet, indem er ein bereits bestehendes Kloster seiner Tochter Hildegard mitsamt weiten Ländereien bis ins Urnerland überschrieb.

Anders die Legende: Die zwei Töchter des ostfränkischen Königs Ludwig des Deutschen, Hildegard und Berta, lebten von der Welt abgeschieden auf der Burg Baldern. Oft wanderten sie nach Zürich, um dort in der Kapelle der Heiligen Felix und Regula zu beten. Gott habe den frommen Schwestern einen weissen Hirsch mit auf den Weg gegeben, dessen Geweih hell leuchtete und ihnen den Weg durch den dunklen Wald wies. Der Hirsch habe ihnen schliesslich eine Stelle bei der Limmat gezeigt, wo sie eine Kirche errichten sollten. Ludwig der Deutsche habe darauf an dem bezeichneten Ort die Fraumünsterabtei gestiftet, der zuerst Hildegard, anschliessend ihre Schwester Berta vorstand.

Im Kreuzgang findet man die Geschichte von Berta, Hildegard und dem Hirsch, von Kaiser Karl und der Schlange und von Felix und Regula in Wandgemälden dargestellt.

Besonders friedvoll ist es im Kreuzgang des Fraumünsters, wo sich keine Chagall-Fenster-Touristen tummeln. (Selbstverständlich sind die Chagall-Fenster aber ein “Muss” für Zürich-Touristen.)

Die Zeichen der einzelnen Steinmetze finden sich an den grossen Sandsteinquadern.

Letzte Äbtissin des Fraumünsters war Katharina von Zimmern. Sie gab ihre Machtposition 1524 widerstandslos ab, als Zwingli die Klöster säkularisierte – und verhinderte so viel Blutvergiessen. Damit nahm die 671 Jahre dauernde Geschichte des Fraumünsterklosters ihr Ende.

Im Kloster Fraumünster war nicht nur gebetet worden, die Äbtissinnen waren im heutigen Sinn Managerinnen, die ihre wirtschaftlichen Interessen nachhaltig vertraten. Als Unternehmerinnen nahmen sie beispielsweise auch die Funktion von Bankerinnen wahr. Es waren Frauen, die als Vorreiterinnen des Feminismus gelten, verhandelten sie doch mit führenden Männern als geachtete Handelspartner.

Die Zürcher Frauenzunft, gegründet 1989, geht auf Katharina von Zimmern zurück. Deren “Denkmal”, ein Kupferstreifen am Boden des Kreuzganges, ist nicht einfach zu finden.

Seit meiner Kindheit bewegen mich folgende Fragen: Was haben Mönch und Nonne zuhinterst miteinander zu tuscheln?

Und: Wie kommt das Kind im tiefsten Mittelalter zu einer so modernen “Latzhose”?

Der Münsterplatz wirkt ohne parkierte Autos gross, offen und weit.

Wer will, macht schnell einen Abstecher zum Paradeplatz – wer kennt ihn nicht als teuerstes Pflaster aus dem Monopoly-Spiel?

Am Münsterplatz stehen zwei Zunfthäuser. Die Zunft zur Waage ist ein Gourmet-Tempel.

Wie ein französisches Barockschlösschen mutet das Zunfthaus zur Meise an. Es wurde 1757 im Stil eines repräsentativen barocken Stadtpalais mit Ehrenhof und schmiedeeisernem Tor als Versammlungshaus der Zunft zur Meisen erbaut, in unmittelbarer Nachbarschaft des Fraumünsters.

Zürich hat, verglichen beispielsweise mit Prag oder Wien, wenige Barockbauten – die schönste ist die Meise.

Die Ursprünge der Urania-Sternwarte gehen auf ein erstes Observatorium auf dem Dach des Zunfthauses zur Meise zurück. Von diesem Standort aus gelang es der «Astronomischen Kommission» im Jahr 1759 erstmals, die Culminatio solis und damit die exakte Ortsbestimmung der Stadt Zürich auf dem Globus zu berechnen.

Für den Frauenstadtrundgang ist die Meise von Bedeutung, weil sich hier regelmässig der BPW Zürich, der Club der Business and Professional Women Switzerland, trifft.

Der BPW ist schweiz- und weltweit der bedeutendste Verband berufstätiger Frauen in verantwortungsvollen Positionen. BPW Switzerland gehören rund 2400 Mitglieder aus verschiedenen Berufen, Positionen, Branchen an, die in 40 lokalen Clubs in allen Regionen der Schweiz vertreten sind.

Der BPW setzt sich ein für die Förderung berufstätiger Frauen, Chancengleichheit und Gleichberechtigung. Er ist eine Antwort auf die verschiedenen Netzwerke, denen lange Zeit nur Männer beitreten durften.

Weiter geht es zum Weinplatz. Das Hotel Storchen ist heute eines der vornehmsten Hotels der Stadt. Gegenüber steht das Haus zum Schwert, das früher als Hotel bekannte Persönlichkeiten beherbergt hat.

Ich liebe diesen Platz, weil hier die “Turnachkinder im Winter” wohnten. Die Turnachkinder sind die Jugenderinnerungen der Zürcher Autorin Ida Bindschedler. Die Erzählungen aus der Zeit, wo in der Stadt Zürich noch der Laternenmann beim Einnachten die Strassenlaternen anzündete, begleiteten meine Kindheit. Insbesondere mit Lotti, dem Jüngsten der Turnachkinder, konnte ich mich identifizieren.
Ida Bindschedler wurde 1854 in Zürich geboren. Der Vater war ein reicher Zürcher Baumwollkaufmann. Ida Bindschedler war als Lehrerin in Zürich tätig.

Das Haus zum Schwert hat für mich auch Bedeutung, weil hier meine Mutter und meine Tante während und nach dem 2. Weltkrieg beim “Samen Mauser” gearbeitet haben. Meine Mutter war Chefsekretärin und achtete ihren Chef Herrn Mauser sehr. Eine typische Frauenrolle – sie hat sich damit sehr wohl gefühlt, denn auch sie wurde respektiert.

Verschwunden ist das “Fröbelhaus Pastorini” – hier schwelgten von 1959 bis 2016 Kindergärtnerinnen und Mütter über Jahrzehnte in pädagogisch wertvollem Bastelmaterial und Spielzeug. Kinder spielen heute anders.

Gegenüber vom ehemaligen Samen Mauser schaut man über die Rathausbrücke, auch Gemüsebrücke genannt, zum Rathausposten der Kantonspolizei.

Limmat abwärts führt die Schipfe teils unter Arkaden zur Uraniabrücke.

Wir aber gehen vom Weinplatz aufwärts zur verträumten Peter Hofstatt.

Die Kirche St. Peter ist ein Ort der Kraft und der Andacht, ein berühmtes nationales Baudenkmal und der erste protestantische Sakralbau in der Stadt Zürich nach der Reformation. Der Turm besass lange Zeit das grösste Zifferblatt Europas. Hier befindet sich die Stube des Feuerwächters.

Auffallend ist der Unterschied zwischen Turm und Kirchenschiff, das barock ist. Einzigartig: Der Turm gehört der Stadt Zürich, das Kirchenschiff der Kirchgemeinde.

Hier findet man die beinahe 200 Jahre alte Buchhandlung Beer.

Schreibende Frauen gab es in Zürich – die meisten waren aber Ausländerinnen, die für eine gewisse Zeit in Zürich weilten und die das Bild der Limmatstadt international prägten.

Die Peterhofstatt war schon früh ein Kulthügel, und auch auf dem Lindenhof finden sich Spuren der Römer.

Für den Frauenrundgang ist der Lindenhof nicht nur wegen dem schönen Blick über die Limmat, zur ETH und Universität relevant. Hier steht auch die tapfere kleine Zürcherin, Hedwig ab Burghalden. Hedwig war auch der Vorname meiner Mutter.

1292 gelang es den Zürcher Frauen, die sich bewaffnet auf dem Lindenhof versammelt hatten, die Habsburger, welche die Stadt belagerten, in die Flucht zu schlagen, nachdem die Männer auf dem Schlachtfeld nicht siegreich waren. Der Legende nach zogen die Habsburger ab, weil sie von der Übermacht des Heeres auf dem Lindenhof beeindruckt waren.

Hier, mitten in der Stadt, findet man viele idyllische Plätzchen.

Das Schöne an dieser Foto der Uraniabrücke ist die Fahne des Stadtkreises Wiedikon, wo meine Cousine und ich aufgewachsen sind. Die blaue Flagge mit dem Reichsapfel hat mir immer gefallen.

Unser nächstes Ziel ist die Stadtpolizei Zürich. Als Kind bewunderte ich den Vater meiner Cousine sehr – er war Stadtpolizist. Damals war die Polizei noch der “Freund und Helfer”.

Bei meinen Recherchen erlebte ich im Eingangsbereich den Charme einer Polizistin: “Nein, fotografieren darf man die Decken nicht, nein, es gibt genau bestimmte Öffnungszeiten, und die sind eben vorbei, und nein, mehr als 10 Minuten darf man sich hier nicht aufhalten.” Dabei beherbergt der Eingangsbereich der Regionalwache City der Stadtpolizei Zürich ein einmaliges Kunstwerk von nationaler Bedeutung: Decken bemalt zwischen 1923 und 1925 von Augusto Giacometti, einem entfernten Verwandten des bekannteren Alberto. Seit der Renovation im Jahr 2000 erstrahlt die Halle wieder in ihrem ursprünglichen Glanz.

Da fotografieren streng verboten ist, hier der Link zu den Bildern.

Am Stadtrundgang selbst waren freundlichere Polizeibeamtinnen vor Ort. Sie liessen uns ein und hörten zu, wie meine Cousine erzählte, wie es damals war, als ihr Vater hier arbeitete und sie ihn selten mal besuchen durfte. Wichtigste Erinnerung: “Es gab ein Ragusa, das gab es sonst nie!”

So verschlossen, wie man sich bei der Stadtpolizei zuerst zeigte, so verschlossen sind die vielen kleinen Liebesschlösser auf dem Steg über die Limmat.

Mit dem Polybähnli geht die kurze Fahrt zum Hauptgebäude der ETH. Der Blick von der Terrasse ist toll – und man schaut geradewegs zum Üetliberg, in dessen Schoss Wiedikon liegt.

Gestiegen ist der Frauenanteil bei den Studierenden an der ETH, der 2015 bei 32,5 Prozent lag – so hoch wie noch nie. Mehr junge Frauen als junge Männer absolvieren eine Matura. Weniger doktorieren und noch viel weniger werden Professorinnen.

Aber mit Sarah Springman hat die Eidgenössische Technische Hochschule Zürich erstmals eine Rektorin.

Im Eingangsbereich findet man zwei Skulpturen – ich denke, sie widerspiegeln die Rolle, welche hier die Frauen seit der Gründung 1855 gespielt haben.

Von Anfang an durften Frauen hier studieren, die ersten Frauen an der ETH waren Russinnen. Für Zürcher Mädchen fehlten Schulen, die zu einer Matura führten. Erst 1904 wurden im Rahmen der Höheren Töchterschule erstmals Klassen mit Schülerinnen, die sich auf die Matura vorbereiteten, gebildet. Doch weder die eidgenössische noch die kantonale Maturitätskommission anerkannten sie als eigenständige Maturitätsschule. Die Schülerinnen wurden deshalb von dieser Kommission nochmals geprüft. 1920 wurde der Töchterschule endlich die kantonale Maturitätsberechtigung zugestanden.

Meine Cousine und ich besuchten die Töchterschule Bühl, Wiedikon, noch in reinen Mädchenklassen. Wir wurden beide Lehrerinnen – typisch für diese Zeit. Wir wählten aus einer beschränkten Palette von Berufen. Zu dieser Zeit gab es unterschiedliche, geschlechtsspezifische Berufsinformationsmedien für Mädchen und Jungen.

Beim Besuch der Universität gleich neben der ETH denke ich an das beeindruckende Buch von Eveline Hasler: Die Wachsflügelfrau.
Es erzählt die Geschichte der Emilie Kempin Spyri, die 100 Jahre vor mir geboren worden war und als erste Schweizerin in der Schweiz als Juristin promovierte und habilitierte. Als Frau durfte sie jedoch nicht als Anwältin praktizieren, weshalb sie nach New York auswanderte, wo sie an einer von ihr gegründeten Rechtsschule für Frauen unterrichtete.
Zeitlebens kämpfte Kempin-Spyri für ihre Zulassung als Anwältin und zerbrach schliesslich an diesem erfolglosen Kampf sowie an privaten Problemen nach der Scheidung. Im September 1897 wurde sie wegen Geisteskrankheit in eine Heil- und Pflegeanstalt eingewiesen, 1898 entmündigt. Ob sie geisteskrank war, ist sehr umstritten.

Emilie Kempin-Spyri war die Nichte der Heidi-Autorin Johanna Spyri. Das Frauenbild, das diese geprägt hat, beeinflusste die Mädchenliteratur dieser Zeit. Grundmuster: Mädchen bleibt in schwierigen, ungerechten Situationen lieb, brav und demütig – und vor allem selbstlos. Johanna Spyri ist ihrer Nichte in den Rücken gefallen, eine studierte Frau widersprach dem Welt- und Menschenbild, das sie vermittelte.

Als Kind holte ich in der Pestalozzi Bibliothek Bücher. Während meine Brüder spannende Romane rund um Entdeckungen und Technik bekamen, legten die ältlichen Bibliothekarinnen, die Schürzen trugen, Heidi, Anneli, Theresli, Rosenresli und wie all dieser Schund hiess, auf die Theke. Sie wussten genau, was ich brauchte. Das Gift der jungen Jahre: Wer demütig, selbstlos und fleissig ist, wird belohnt – mit einem Mann.

An der Künstlergasse wächst ein kleiner Fliederbaum tapfer aus der Ritze der Mauer. Auch das ist Zürich.

Es gibt unendlich viele, schöne, kleine Winkel und Ecken, die unserer Stadt Profil geben – man muss sich nur die Zeit nehmen, sie zu entdecken.

Wie beispielsweise den Rechberggarten mit seinen wunderschönen schmiedeeisernen Toren. Er grenzt ans Konservatorium, wo meine Geige und ich gemeinsam lange Jahre erfolglos gelitten haben.

Mit dem Rechberg ist einer der schönsten Barockgärten in Zürich erhalten geblieben.

Gegenüber vom Haus zum Rechberg beginnt die Neumarktgasse, meine Lieblingsgasse.

Gleich zu Beginn der Gasse steht das Haus, wo der Zürcher Dichter Gottfried Keller geboren wurde. Für Zürcher Schüler gehört “Der grüne Heinrich” zur Pflichtlektüre. Im autobiografischen Roman stehen zwei Frauen im Zentrum:
Anna, die Tochter eines Lehrers, ein Mädchen in Heinrichs Alter, und Judith, eine etwa dreissigjährige schöne Witwe. Zwischen beiden Frauen ist der junge Heinrich hin- und hergerissen. Die zarte, engelhafte Anna erfüllt ihn mit romantischer, verklärender und idealisierender Liebe, die lebensfrohe, verführerische Judith erweckt seine Sinnlichkeit. Heinrich kann zu keiner der beiden Frauen eine Beziehung aufbauen und die Episode endet, ohne eine Auflösung zu finden, indem Anna zwei Jahre später starb und Judith nach Amerika auswanderte. Und wieder, wie bereits beim Opernhaus besprochen, die Archetypen Maria (Anna) und Eva (Judith) – die es den Zürcher Männern schwer machen und sie letztlich mit ihrer Ambivalenz allein lassen.

Neben dem Kunsthaus findet man den Lydia Welti-Escher Platz. Sie war eine hochgebildete Mäzenin, Gründerin einer Kunststiftung und eine der reichsten Frauen der Schweiz des 19. Jahrhunderts. Sie heiratete den Sohn eines Bundesrates, verliebte sich aber nach der Heirat in den Künstler Karl Staufer und floh mit ihm nach Rom. Bundesrat Welti liess seine Beziehungen spielen, Lydia bekam die Diagnose systematisierter Wahnsinn und wurde in einer Irrenanstalt interniert.

Sowohl Lydia Welti-Escher als auch Karl Staufer zerbrachen und beendeten ihr Leben mit dem Freitod.

Da nützt auch das Schild des Kunsthauses nichts.

Das Schauspielhaus spielte während dem zweiten Weltkrieg eine tragende Rolle. Gegenüber befindet sich das Musikhaus Jecklin, daneben der Lyceum Club.
Der Lyceum Club ist ein Zusammenschluss von Frauen, die sich für literarische, musische, künstlerische, soziale und ökologische Fragen engagieren. Sein Zweck ist, auf anspruchsvollem Niveau kulturelle Veranstaltungen zu organisieren und junge Talente zu fördern.

Daneben erhebt sich der legendäre “Affenkasten”, die ehemalige Töchterschule “Hohe Promenade”. Hier erhielten viele Zürcherinnen eine Ausbildung, die ihnen den Weg in Wissenschaft, Kultur und Politik eröffnete.

Nun sind wir bereits wieder oberhalb des Bahnhofs Stadelhofen, wo wir unseren Rundgang begonnen haben.

Von Zürich und seinen Frauen gäbe es noch viel zu erzählen.

Tipp: Ladet Freundinnen zu einem Stadtrundgang ein, druckt diesen Beitrag aus oder nutzt das Handy als “Reiseführer”. Wer von weiter weg kommt und den Rundgang machen möchte, kann bei mir im “Lavendelzimmer” übernachten: B&B ganz privat:-)

Wer sich für diese Themen interessiert, soll sich und anderen “Miis Züri” von Yvonne-Denise Köchli schenken. Der Frauen-Stadtführer zeigt das Zürich der erfolgreichen und kreativen Frauen in Geschichte, Literatur, Wissenschaft, Wirtschaft, Architektur und Design, das Zürich der Künstlerinnen, Musikerinnen, Theater- und Filmschaffenden, Tänzerinnen und Modeschöpferinnen.
Yvonne-Denise Köchli kennt Zürich wie ihre Handtasche, sie ist ein Kind dieser Stadt. Einer Stadt, die sich, seit sie die Töchterschule am Pfauen, den so genannten Affenkasten, besuchte, stark verändert hat. „Zürich hat sich gemausert“, schreibt Köchli in ihrer treffenden Sprache.
„Miis Züri“ ist weit mehr als ein Stadtführer, es ist eine Liebeserklärung an das weibliche Zürich.

Miis Züri – Neun Streifzüge von Frauen für Frauen, Yvonne-Denise Köchli, Xanthippe, 2016, 270 S., ISBN 978-3-905795-48-6, CHF 35.90

Die Männer altern, und die Frauen verändern sich.

Johann Wolfgang von Goethe

Buchtipp

«Zu sehr emancipiert» Lydia Eschers Tragödie von Regina Dieterle
Eine junge, märchenhaft reiche Ehefrau nimmt sich einen Liebhaber, bricht aus den Konventionen aus und wird sofort geächtet und verstossen.
Es ist die Tragödie der Lydia Welti-Escher, Tochter und Erbin von «Eisenbahnkönig» Alfred Escher, Schwiegertochter von Bundesrat Emil Welti. Der Mann, den sie liebt, ist der begnadete Künstler Karl Stauffer-Bern. Das Drama beinhaltet eine tollkühne Übersiedelung nach Florenz und Rom samt dortiger Verhaftung und psychiatrischer Internierung (letzteres amtsmissbräuchlich durch Bundesrat Welti veranlasst). Zwar wird das junge Paar befreit und darf in die Schweiz zurückkehren, doch begehen beide dort im Abstand weniger Monate Selbstmord.
An die Öffentlichkeit gelangen die Ereignisse durch den Berliner Kritiker und Theatermann Otto Brahm. Er kannte Stauffer von seinen Anfängen in der Reichshauptstadt und beginnt hartnäckig zu recherchieren. Was er aufdeckt, ruft die Schweizer Behörden auf den Plan, die versuchen der Dokumente habhaft zu werden, die ihm anvertraut wurden – darunter auch Lydia Eschers Manuskript «Gedanken einer Frau». Es ist bis heute verschollen.
Alles was Brahm über das «Drama Stauffer-Escher» publiziert, liest Theodor Fontane mit grosser Bewegung. Seine Sympathie gilt zuerst Lydia Escher, dann auch Karl Stauffer-Bern, nach dessen Tod er in kurzen Zügen «Die Geschichte mit Stauffer von Bern» (1891) skizziert und die politischen Verwerfungen des Skandals benennt. Gleichzeitig vollendet er seinen Roman «Effi Briest».

Musik
Sechseläutenmarsch Zürichs “Stadthymne”

Weitere Bücher

Buch: Die Wachsflügelfrau
Film: Die Wachsflügelfrau
Buch: Lydia Welti-Escher
Buch: Der grüne Heinrich

Zurück

Geschenke eintüten

Nächster Beitrag

Musikwochen in Ernen

  1. Ritanna

    Glanzvoll die Beschreibung und Bebilderung, ein riesengrosses Kompliment.
    Man muss dieses Zürich mit Deinem Wegweiser selber nochmals eruieren.

    Stadtpolizei, Dein Freund und Helfer; ja, ja in den fünfziger war es für den einten und anderen möglich, als zu beobachtende Streife eine ruhige Zone auszuwählen: “Weisch, denn hani au niemert müesse ahalte und ufschriibe!” gestand kürzlich einer. Und er kann noch viel mehr Müsterchen erzählen.

    • Regula Zellweger

      Ja, nimm Dir Zeit, liebe Rita, und nimm Deine Enkelkinder mit und zeig ihnen Zürich. Kannst den Blogbeitrag ausdrucken oder auf dem Handy immer wieder nachschauen, wohin Ihr gehen wollt. Ich bin sicher, Du wirst viel Neues entdecken und Deine Enkel würden durch Dich eine Beziehung zum Kantonshauptort bekommen, Ihr seid ja eigentlich nur Aargauer im Grenzbereich von Zürich:-)

      Ich erinnere mich, wie die Leute dem Verkehrspolizisten am Central vor Weihnachten Geschenke gebracht haben. Er stand in einer blau-weiss gestreiften “Tonne”. Das fand ich damals als Kind sehr schön. Ich hatte dank meinem lieben Polizisten-Onkel überhaupt kein Fremdbild, sondern achtete Polizisten sehr. Mit den Globus- und Opernhauskravallen hat sich das irgendwie geändert.
      Schade, denn es gibt auch heute viele Polizeibeamte, für die das Helfen an erster Stelle steht.

  2. Mary

    Sooo en schöne Biitrag <3 hani gad lust uf Luxäburgerli 🙂

    • Regula Zellweger

      Bringe Dir gern wieder einmal welche mit:-)
      Und freue mich darauf, Dir meine Stadt zu zeigen – immer wieder neu.

  3. V . Blaser

    Ein wunderschöner Beitrag über Zürich . Als ehemalige Stadtzürcherin müsste
    ich wiedereinmal einen ausgedehnten Altstadtbummel unter die Füsse nehmen . Bravo und Dank für diesen Artikel.
    V . B .

    • Regula Zellweger

      Danke!!! Dieses Feedback freut mich ganz besonders.

      So toll, wenn jemand mit dem Blogbeitrag auf dem Handy (oder ausgedruckt) loszieht und Zürich auf der gleichen Strecke individuell ganz anders erlebt, Wenn Kindheitserinnerungen auftauchen und Raum bekommen.
      Öises Züri ist wirklich schön!

      Viel Vergnügen beim Züribummel!

      Herzlich
      Regula

  4. Esther Haller-Ofner

    Liäbs Rägi
    de Rundgang namal z`läse, isch als würd ich oises Lache, Schnädere und Begeischterig vu allne namal i de Ohre ha.
    Danke für dini interessanti, unterhaltendi Füährig. Es isch daas Gschänk xi 🙂

    dini Cousine

    • Regula Zellweger

      Für mich war es toll, plaudernd und spazierend interessante Frauen kennen zu lernen. Du hast wunderbare Freundinnen!

  5. Achermann Marlies

    Hallo Regula, ein toller Bericht über den Rundgang durch Zürich!
    Manchmal vergisst man wie schön und interessant Zürich ist. Ich werde meinen nächsten Besuch aus Deutschland und Österreich mit diesem Rundgang überraschen!
    Gruss aus dem nahen Bonstetten Marlies

    • Regula Zellweger

      Liebe Marlies

      Das freut mich sehr! Bestimmt werdet Ihr tolle Spaziergänge erleben. Zürich ist wirklich schön. Bestimmt entdeckt Ihr viele neue Dinge. Mich hat der kleine Fliederbaum begeistert, der aus der Mauer wächst und ich bin dankbar, dass ihn bisher niemand “gejätet” hat.

      Herzliche Sonntagsgrüsse und DANKE für Dein Feedback – tut gut!
      Regula

  6. Eva

    Liebe Regula
    Deinem spannenden Spaziergang bin ich voller Begeisterung virtuell gefolgt: kenne ich doch jede Ecke. Während meiner Semizeit führte mein Schulweg am Affenkasten vorbei zur Kanti Stadelhofen.
    Wieder aufleben konnte meine Erinnerung an den wunderschönen Park hinter dem Konservatorium, wo ich mich viel lieber aufhielt als in den düsteren Gängen des altehrwürdigen Baus mit den doppelten, gepolsterten Türen, hinter denen ein Durcheinander von Gefiedel, Geklimper und Getute wild durcheinander klang! Der wahre Grund der Abneigung war aber mein schlechtes Gewissen, weil ich meine Tonleitern auf der Querflöte wieder kaum geübt hatte…
    Als ich nach dem Film der “Wachsflügelfrau” auf Youtube suchte, stiess ich auf interessante Beiträge über die Schweizer Pianistin Esther ( wie deine Lieblingscousine) Flückiger.
    Regula, dein wertvoller und umfassender Beitrag lässt sich leicht lesen und mit den passenden Illustrationen geniessen. Doch hinter diesem ansprechenden Werk steckt ganz viel Arbeit, die du mit grosser Hingabe für uns alle leistest.
    Vielen Dank dafür!

  7. Regula Zellweger

    Liebe Eva

    Danke für den Tipp: https://www.youtube.com/watch?v=UNMozl4WgBc
    Das finde ich so schön am Bloggen: Inhalte teilen, Ideen weiter entwickeln, recherchieren, neu entdecken, erinnern…

    Oups, Rechberg und nicht geübt haben. Genau so waren die Gefühle! Ich habe jeweils Bogen oder Noten vergessen. Nützte nicht viel. Einmal habe ich behauptet, ich könne meine linke Hand nicht bewegen, ein Hund habe mich gebissen. Ein Kläfferchen hatte leicht zugeschnappt. Der Geigenlehrer brachte mich zu einem Arzt und ich bekam eine Tetanusspritze!:-)
    Danke für Deinen liebevollen, wertschätzenden Kommentar!

Schreibe einen Kommentar

© Regula Zellweger | Alt werden kann ich später | Datenschutzerklärung| Impressum

Contact Us

Neue Beiträge abonnieren

Hier registrieren, um automatisch benachrichtigt zu werden.