Bibliotheken und Buchhandlungen geben Schriftstellern Gelegenheit, ihre Werke mit Lesungen vorzustellen – und leisten damit einen Beitrag zum Schweizer Kulturleben.
Lesungen sind eine tolle Sache, weil Autoren mit ihren Werken hautnah an die Leserinnen herankommen können. Es entsteht eine Beziehung zwischen Autor und Leser.
Kennt man einen Autor, liest man ein Buch mit einem anderen Fokus.
Letzte Woche besuchte ich eine Lesung, von der ich begeistert bin. Evi Ketterer las aus ihrem Buch „Geschichten intimer Beziehungen“
„Weil es diese Geschichten gibt“, ist die Antwort der in Palliative Care spezialisierten Pflegefachfrau Evi Ketterer auf die Frage: „Warum dieses Buch?“ Um sofort zu ergänzen: „Mich gibt es ohne das Thema nicht.“
Diese beiden Sätze fassen die wichtigsten Aussagen der Lesung zusammen: Der Tod ist der Tod, niemand weiss wirklich genau, was und wie er ist, für jeden sein wird. Aber Sterben gehört zum Leben, ist Leben. Deshalb soll man darüber sprechen. Und den Sterbeprozess so würdig gestalten wie möglich – für sich selbst und für andere. Was Würde bedeutet, muss jeder Mensch für sich selbst auf Grund seiner individuellen Werte definieren. Andere Menschen haben diese Entscheide achtsam zu respektieren.
Die Lesung begann mit dem Brief einer Tochter. Evi Ketterer hatte die Geschichte des Sterbens ihrer Mutter – als gemeinsamen Prozess eines Ehepaares – in ihrem Buch festgehalten. Diese Tochter beschrieb, wie sie beim Lesen statt in Tränen auszubrechen, in ein gutes, warmes Gefühl hineinfand. Die Reaktionen, die Gefühle von Angehörigen und Betreuenden, sind Evi Ketterer wichtig.
Nach der Lesung der Geschichte war es still, einfach still – eine adäquate Reaktion des Publikums.
Und trotz der Anwesenheit vieler Fachpersonen blieb die erste Frage von Evi Ketterer zuerst unbeantwortet: „Wie geht es Ihnen mit dem Sterben?“. Die Buchhändlerin brach das Eis mit einer ganz persönlichen Antwort – oder war es schlussendlich eine Frage? Denn Antworten rufen bei diesem Thema nach Fragen.
Offen kamen Sterbehilfe und Exit zur Sprache. Lachend erklärte sie, dass schon der Begriff Palliative Care manchmal als beängstigend wahrgenommen werde. „Niemand stirbt, weil ich komme. Ich komme, weil jemand stirbt. Wenn ich komme, sind Sterbende besser betreut.“
„Wir helfen nicht beim Sterben“, sagt Evi Ketterer mit grosser Klarheit. „Aber wir respektieren den Wunsch, gehen zu wollen. Es ist nicht an uns zu entscheiden, wie ein Mensch aus dem Leben gehen soll.“
Evi Ketterer nimmt auch kein Blatt vor den Mund, wenn es um das Sterben im Kontext der Gesellschaft, der Versicherungen und der Finanzen geht: „Bedenken Sie, wie viel Geld in die Spitzenmedizin gesteckt wird. Man sollte mehr in das würdige Sterben investieren, denn es braucht Zeit für Gespräche und für Gefühle, Zeit, um Schwerstkranke ihre eigenen Antworten finden zu lassen.“ Ganz wichtig: Palliative Care ist für alle Patienten und ihre Angehörigen, nicht nur für Krebspatienten, auch wenn im Kanton Zürich die Organisation Onko Plus heisst. Onko Plus ist eine Art Brücke zur Palliativstation.
Die Spezialistin kennt viele Bewältigungsstrategien, auch das Verdrängen des Themas. Eine Frage aus dem Publikum: „Warum haben Menschen Angst vor dem Sterben?“ Evi Ketterer, eine Frau, die gern lacht und fröhlich ist, wirkt sofort ernst, konzentriert, wählt ihre Worte mit Bedacht. „Das Nichtwissen, die Kontrolle nicht in Händen zu haben, fällt uns allen schwer.“
Und immer wieder fällt das Wort Vertrauen, Vertrauen ins Leben, Vertrauen in den Tod.
Einerseits will man über Leben und Tod sprechen, anderseits will man lieber nichts davon wissen. Solche Ambivalenzen – und damit auch Doppelbotschaften – sind für Sterbende und ihre Angehörigen schwierig.
Oft kommen im Sterbeprozess nicht bewältigte Erlebnisse noch einmal hoch. Wie damit umgehen?
Selbstbewusstsein beinhaltet auch Bewusstsein um das eigene Sterben. Evi Ketterer ermuntert Angehörige, nicht zu viel Verantwortung zu übernehmen. Moral ist für sie ein Fremdwort, Ethik scheint sie sehr zu beschäftigen, immer wieder. Sie ist sicher: „Es gilt, die Geschichten zu Ende zu erzählen. Niemand stirbt mit der Diagnose, man stirbt mit dem letzten Atemzug.“
Zum Schluss stellte sich Evi Ketterer mutig vor das Publikum und sang ein Lied, mitten ins Herz der Zuhörer:
„Wie konnte jemals jemand sagen,
dass Du weniger bist als wunderbar?
Wie konnte jemals jemand sagen,
dass Du weniger bist als heil?
Wie konnte irgendwer nicht merken,
dass Dein Leben wie ein Wunder ist,
wie tief wir doch verbunden sind als eins?“
Link zum Lied, gesungen von Gila Antara
Geschichten einer intimen Beziehung – Sterbebetreuung einmal anders erzählt, Evi Ketterer, tredition, 2016, 173 S., ISBN 978-3-7345-3282-5
Martina Amato
Liebe Regula
Klingt nach einer spannenden Lesung. Die von dir gewählten Bilder sind sehr passend und stimmungsvoll. Du glaubst es wahrscheinlich nicht: Ich war noch nie an einer Lesung. Nach deinem Bericht möchte ich dies aber gerne bald einmal nachholen.
Herzlich
Martina
Elisabeth Meisser
Liebe Evi,
ganz herzliche Gratulation zu Deinem Buch zu diesem so wichtigen Thema . Oft finden wir nicht die richtigen Worte und trauen uns nicht über Tod und Sterben zu sprechen. Du machst uns Mut mit Deiner Erfahrung und Deiner Herzenswärme .
Ich freue mich aufs Lesen!
Elisabeth