Wiener Kaffeehauskultur

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dsc05016Ich sitze allein in einem Café. Vor mir schmust ein Liebespaar hemmungslos, rechts tauschen zwei Freundinnen intime Geheimnisse aus und links fixiert mich ein Mann – wohin soll ich nur schauen? Wer kennt nicht solche Situationen, in denen man nicht weiss, wohin mit den Augen. Dabei könnte es doch so gemütlich sein!

collage-kafeehaeuser3Kein Problem: In meiner Tasche liegt immer ein Notizbuch. Ich schreibe. Lasse Gedanken kommen und gehen. Schreiben in Cafés ist ein Lebensstil. Ich lausche den Hintergrundgeräuschen, geniesse meinen Kaffee und – überall auf der Welt – kommt so ein wenig Wiener Kaffeehausstimmung auf.

collage-kafeehaeuser4Was darf‘s denn bitte sein? Melange, Einspänner, Kleiner Brauner, Mokka oder Verlängerter? Mokka ist meist die Grundlage – schwarzer Kaffee oder Espresso würden wir dazu sagen (Kleine Wiener Kaffeekunde s. unten).
In Wiener Kaffeehäusern kann man verweilen, plaudern, lesen, schauen, geniessen, schreiben… für den Wiener ist das Kaffee ein zweites Wohnzimmer, für Künstler und Literaten eine Institution, für Touristen eine Attraktion.

collage-kafeehaeuser2Während ich schreibend im Café sitze, schleicht mich ein kleiner Hauch von Grössenwahn an. Viele Künstler und Literaten schufen früher im Kaffeehaus ihre Werke. Nicht, dass ich mich da einreihen möchte – aber es ist einfach ein gutes Gefühl.

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Mit Kaffeehausbesuchen konnte man früher Geld für Heizung und Licht sparen – und mit anderen diskutieren, wenn sich die Muse gerade mal rarmachte.
Man konnte mit viel Glück Verleger oder Mäzene treffen – oder wenigstens zu einem Kaffee eingeladen werden. Vor allem aber war man nicht einsam.

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Im Kaffeehaus standen Zeitungen zum Lesen zur Verfügung.
Heute, zu Handyzeiten, fast undenkbar: Man konnte sich damals auch ins Kaffeehaus anrufen lassen, denn nicht jeder hatte einen Telefonapparat zuhause.
Zudem: Jahrzehntelang gab es Wiener Kaffeehäuser, die bis weit nach Mitternacht geöffnet hatten.  Lesungen gibt es noch heute in einigen Kaffeehäusern, auch Life-Musik. Sogar Mozart und Beethoven sollen ihre Kompositionen im Kaffeehaus „ausprobiert“ haben.

collage-kafeehaeuser5Bekannt ist das Sacher, aber in Wien gibt es heute über 800 Kaffeehäuser, nicht mitgezählt Café-Bars, Café-Restaurants, Steh-Cafés und Kaffeekonditoreien. Rund 150 klassische Wiener Kaffeehäuser werden traditionelle geführt: die Bedienung trägt schwarz-weisse Kleidung und hat (meistens) Wiener Charme.
Die Einrichtung ist wie zur guten alten Zeit: Holzböden oder Steinfliesen, Marmortische, einfache Sessel und plüschige Sofas. Als klassisch gelten die Thonet-Stühle, die in der Wiener Thonet-Sessel-Manufaktur hergestellt wurden.

collage-kafeehaeuserHeute gibt es aber auch charmante Kaffeehäuser, welche alte Traditionen und neuen Lebensstil vereinen.

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Nicht nur bei der Wahl des Kaffeehauses und der Kuchen und Torten sind Touristen oft überfordert, auch beim Bestellen des Kaffees. In der langjährigen Wiener Kaffeehaustradition wurden rund fünfzig verschiedene Kaffeezubereitungen angeboten, variiert wurde mit den Gefässen sowie mit der Zugabe oder Weglassens von Zucker, Rahm, Kaffeerahm, Milch, Milchschaum, Milchhaut, Spirituosen und der Reihenfolge oder Schichtung der Zugaben.

dsc06752Noch hat die italienische Kaffeekultur in Wien nicht die Oberhand gewonnen – wie bei uns, wo der gute alte „Milchkafi“ von Latte Macchiato und Cappuccino verdrängt und aus den Mokkatassen Espressotassen wurden. 9783866710603xxl1

Zurück aber zum Schreiben in Cafés: Es gibt ein super Buch, das generell Mut zum Schreiben macht.

Schreiben in Cafés, Natalie Goldberg, Autorenhaus Verlag, 2009, 199 S., ISBN 978-3-86671-060-3, CHF 22.00

 

Wiener Kaffeespezialitäten

  • Ein kleiner Schwarzer ist ein Mokka. Ein grosse Schwarzer ein doppelter Mokka.
  • Ein kleiner Brauner ist ein Mokka mit Kaffeerahm. Ein grosser Brauner ein doppelter Mokka mit Kaffeerahm (Café Crème)
  • Ein verlängerter Brauner ist ein Mokka in einer grossen Tasse mit heissem Wasser aufgegossen und einem Schuss Kaffeerahm.
  • Eine Melange besteht aus halb Kaffee und halb Milch. Eine typische Wiener Melange wird mit geschäumter Milch im Glas serviert.
  • Ein Franziskaner ist eine Melange mit einer Schlagrahm- statt Milchschaumhaube.
  •  Ein Kapuziner ist ein doppelter Mokka mit Schlagrahm.
  • Ein Einspänner ist ein Mokka im Glas mit sehr viel Schlagrahm, ein doppelter Einspänner basiert auf einem doppelten Mokka. Seinen Namen hat das Getränk von den einspännigen Pferdefuhrwerken. Die Kutscher hielten den Kaffee in der einen Hand, die Zügel in der anderen. Durch die dicke Schlagrahmhaube blieb der Kaffee lange heiss und konnte während einer Pause getrunken werden. Dazu wird traditionell Staubzucker serviert. Im Allgemeinen wird der Einspänner nicht umgerührt, der heisse Kaffee wird traditionell durch das kalte Schlagobers getrunken.
  • Bei einer kleinen Schale Gold  wird ein Mokka mit heisser Milch aufgegossen und mit  Milchschaumhaube serviert.
  • Ein Eiskaffee englischer Art besteht je aus einem Drittel Kaffee, Eis und Schlagrahm.

Die Aufzählung würde sehr lang, wenn man noch alle Kombinationen von Kaffee mit Gebranntem auflisten würde. Dazu kommen Variationen mit und ohne Milch oder Schlagrahm. Eine kleine Auswahl:

  • Fiaker mit Sliwowitz oder Rum
  • Biedermeier mit Marillenlikör
  • Kosakenkaffee mit flüssigem Zucker und Rotwein und Wodka
  • Marghiloman mit Weinbrand oder Cognac
  • Maria Theresia mit Orangenlikör

Und danach ein Katerkaffee – starker Mokka, gesüsst mit an Zitronenschale geriebenen Zuckerstücken.

Kaffee ist die Milch der Denker und Schachspieler.

Aus Arabien

Link Wiener Kaffeehausmusik

Buchtipp
Wien ist immer eine Reise wert! Und das Kaffeehaus gehört zur österreichischen Hauptstadt wie der Prater oder der Stephansdom. Einen besonderer Bildband, der Lust auf Wien und seine Literatur macht, haben Barbara Rieger und Alain Barbero geschaffen: In Melange der Poesie (Verlag Kremayr & Scheriau) haben sie 55 Autorinnen und Autoren in ganz unterschiedlichen Kaffeehäusern getroffen und die Begegnungen in stimmungsvollen Schwarzweiß-Fotografien festgehalten. Entstanden sind Bilder voller Poesie, die Lust auf den nächsten Städtetrip machen.

 

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Zeit zu wünschen

  1. Ursula Krebs

    Liebe Regula,
    Früher sagte ich mal: «Sollte je eine Fee zu mir kommen und ich hätte einen Wunsch frei, dann möchte ich gerne Kaffeehausliterat zur Hochblütezeit der Wiener Kaffeehauskultur werden…»
    Danke für den schönen Artikel und den guten Buchtipp!

  2. Beatrice Käser

    Ich kriege gleich Lust auf eine dicke fette Mélange und gemütliches Schmökern in 1001 Zeitungen?! So schön nostalgisch…

  3. Rita Ruoss

    Ich muss ganz schnell nach Wien. So schön…

  4. Leseliesel

    Was für ein schöner Beitrag! Ich fahre in drei Wochen nach Wien und freue mich gerade noch ein wenig mehr. Das Buch von Nathalie Goldberg hatte ich vor über zwanzig Jahren auf meiner Jemenreise mit dabei – wirklich sehr empfehlenswert.
    Liebe Grüsse von Leseliesel (Leseliesel.blog)

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